Ein Grabstein und das Recht auf Rente

Helmut Kohl bleibt Ehrenbürger Berlins – auch wenn die Bündnisgrünen eine Debatte über die Aberkennung des Titels angezettelt haben. Seine Privilegien nimmt der Altkanzler ohnehin nicht in Anspruch ■ Von Ralph Bollmann

Die grüne Fraktionsvorsitzende hatte den Mund ziemlich voll genommen. „Wer nicht Ehrenvorsitzender der CDU sein kann“, rief Renate Künast in Richtung der verwaisten Unionsbänke im Abgeordnetenhaus, „kann noch weniger Ehrenbürger der Stadt Berlin sein.“ Ein Satz, der an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ: Den Vorsitz lässt Kohl ruhen, also muss er auch als Bürger abdanken.

Den hehren Worten aber folgten keine Taten. Sogar die Grünen selbst beschlossen am Wochenende, das Thema zu vertagen – bis Kohl „unwiderlegbar“ der Bestechlichkeit überführt ist. Auch die PDS, sonst um starke Worte nie verlegen, plädiert in diesem Fall für Umsicht. Mit einer „Säuberung“ der Ehrenbürgerliste solle das Land „vorsichtig umgehen“, findet Fraktionschef Harald Wolf.

Kein Wunder, denn die jüngste „Bereinigung“ der Liste ist den Sozialisten noch in unliebsamer Erinnerung. Von den 27 Ehrenbürgern Ostberlins blieben nach der Vereinigung gerade 7 übrig. Dabei habe der erste sowjetische Stadtkommandant Nikolai Bersarin den Titel „aufgrund falscher Anschuldigungen“ verloren, glaubt Wolf.

Die Ehrenbürgerliste gilt ihm als „historisches Dokument“, an dem nicht jede Politikergeneration erneut herumdoktern müsse. Ausnehmen möchte er lediglich Ehrenbürger, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. So hatte die Stadtverordnetenversammlung gleich nach dem Krieg Adolf Hitler und drei weitere Nazi-Größen von der Liste gestrichen.

Bis auf diese beiden Eingriffe 1946 und 1992 ist die Ehrenbürgerschaft bislang noch niemandem aberkannt worden. Schon deshalb wäre ein Vorpreschen in der Causa Kohl ein Affront besonderer Güte. Plötzlich stünde Kohl auf einer Stufe mit Hitler – ein Stockwerk tiefer noch als Paul von Hindenburg, denn der Steigbügelhalter der Nationalsozialisten firmiert noch immer als Ehrenbürger Nummer 58.

Handfeste Vorteile haben die Geehrten zu Lebzeiten ohnehin nicht – mit einer Ausnahme: Sie dürfen sich von einem Maler ihrer Wahl in Öl porträtieren und ihr Konterfei auf den Fluren des Abgeordnetenhauses ausstellen lassen. Was die Kunst kosten darf, will die Parlamentsverwaltung aber nicht sagen, „aus taktischen Gründen gegenüber den Malern“, wie Sprecher Lutz-Rainer Düsing sagt. Als einziger Ehrenbürger hat Helmut Kohl dieses Privileg noch nicht in Anspruch genommen. Parlamentspräsident Reinhard Führer (CDU) will seinen Parteifreund jetzt nicht mehr drängen.

Auf den Freifahrschein der Verkehrsbetriebe haben die meisten von ihnen ohnehin verzichtet, auch an der Lektüre des kostenlosen Gesetz- und Verordnungsblattes finden nur die wenigsten Gefallen. Für die Hinterbliebenen ist die Sache schon lukrativer: Das Land stellt dem Geehrten eine Grabstätte und bezahlt deren Pflege.

Mit Bedacht haben Senat und Abgeordnetenhaus, die über die Ehrungen entscheiden, bislang nur Besserverdienende berücksichtigt. Denn die „Richtlinien über Vergünstigungen für Ehrenbürger und Stadtälteste“ sehen bei Bedürftigkeit eine lebenslange Rente für den Geehrten und seine Hinterbliebenen vor. Sollte die CDU den Spendensammler Kohl in Regress nehmen, könnte der Altkanzler darauf zurückgreifen. Aber Vorsicht: Alle Vergünstigungen werden den Ehrenbürgern „ohne Rechtsanspruch“ gewährt.

Die soziale Komponente ist gleichwohl kein Beiwerk, sondern der ursprüngliche Kern des Ehrenbürgerrechts. Als der preußische Minister von Stein das Institut 1808 mit seiner progressiven Städteordnung einführte, besaß nur eine wohlhabende Minderheit das reguläre Bürgerrecht. Fortan sollten auch Minderbemittelte, die sich um die Stadt verdient gemacht hatten, zu vollwertigen Bürgern aufsteigen. Doch wahlberechtigter Bürger von Ludwigshafen ist Kohl ohnehin. Daran können auch die Berliner Grünen nicht rütteln.