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Die Graswurzeldemokratie

Im US-Bundesstaat New Hampshire gelten andere Regeln als in Washington. Beim Wahlkampfzählt der persönliche Auftritt. Bürgernähe entsteht in der Town Hall ■ Von Peter Tautfest

Das könnte meine Geschichte sein“, flüstert Scott Johnson und weist mit dem Kopf auf die brünette Dame im Kostüm, die mitten im Saal steht und Mühe hat, weiter zu reden. Es sind nicht nur die gut fünfhundert Anwesenden und die vielen Blicke, die sie jetzt auf sich gerichtet spürt, die sie stocken lassen. Gegen die Tränen anredend, berichtet sie, wie ihre Krankenkasse sich geweigert hat, sie zum Gynäkologen ihrer Wahl zu schicken. „Klingt, als könnte das meine Krankenkasse sein“, kommentiert Scott.

Am Kopfende des Saals steht auf einer niedrigen Bühne mit einem Mikrofon in der Hand ein weißhaariger Mann und hört zu. „Jeder hier im Saal kann solche Geschichten erzählen“, erklärt Farmer Johnson die Geduld der Zuhörer und des Mannes mit dem Mikrofon. „Ich habe Ihnen für die Offenheit zu danken, mit der Sie gesprochen haben“, erhebt der jetzt seine Stimme. „Was ich Ihnen sagen möchte, meine Arme, nein, meine Freundin – verzeihen Sie, Sie sind ja nicht meine Freundin –, was ich Ihnen sagen möchte Madame, ist . . .“

Während Senator John McCain noch nach passenden Worten sucht, erzählt Scott Johnson, wie auch ihm verweigert wurde, einen Spezialisten aufzusuchen, den er im Internet gefunden hatte. „Eine halbe Stunde wäre der Weg zu dem Arzt nach Boston gewesen, mich aber hat man anderthalb Stunden weit zu einem nach Dover geschickt, der sich mit meiner seltenen Krankheit nicht auskannte. Und dabei kostet meine Versicherung eine Monatsmiete.“

Wegen der Krise des Krankenversicherungswesens in den USA ist Scott Johnson hier, aber nicht nur deswegen. Was hier stattfindet, ist ein Town Hall Meeting. In einer Mittelschule im Örtchen Windham in New Hampshire sind ganze Familien zusammengekommen. Da sitzen sie in Baseballmützen und karierten Jacken, in Anzügen und Kostümen und – weil es John McCain ist – besonders häufig in Uniform und Tarnkleidung. Sie sitzen auf Stuhlreihen oder stehen dicht gedrängt an den weiß gestrichenen Wänden, deren gelber Ölsockel dem Raum den Charakter einer sanitären Einrichtung gibt. Mit wenigen Handgriffen ist hier ein Versammlungsraum für einige hundert Menschen entstanden, dessen einziger Schmuck aus Transparenten besteht mit der Aufschrift „McCain for President 2000“.

Gekommen ist man, um einen der sieben Kandidaten zu hören, die am heutigen Dienstag zur Wahl stehen – zwei auf demokratischer, fünf auf republikanischer Seite. Für die meisten ist dies weder die erste noch die letzte Versammlung. „Bei Bush war ich schon, und zu Bradley gehe ich vielleicht noch“, sagt Scott Johnson.

Die „New Hampshire Primaries“, an denen sich Scott und sein 65-jähriger Vater Frank beteiligen, sind Bestandteil einer Übung in Graswurzeldemokratie. Alle vier Jahre stellen sich hier die Kandidaten der der beiden großen Parteien zur Wahl. Demoskopen glauben zwar zu wissen, dass die Parteitreuen von Demokraten und Republikanern ihre beiden Favoriten George Bush beziehungsweise Al Gore bevorzugen werden, die Unabhängigen aber werden die Wahl entscheiden, und sie sind noch unentschieden. Um ihre Stimmen kämpfen vor allem zwei Kandidaten: John McCain, Senator aus Arizona auf Seiten der Republikaner; Bill Bradley, ehemals Senator aus New Jersey, auf Seiten der Demokraten.

„Ursprünglich war ich für Bush, denn in unserer Familie wird traditionell republikanisch gewählt“, sagt Scott Johnson (32), der mit seinem Vater Frank gekommen ist. „Doch als ich neulich bei Bush war, fand ich, dass der nur in vorgestanzten Phrasen redet.“ Die Johnsons sind alter neuenglischer Adel. Sie kamen 1620 auf der Mayflower nach Amerika.

Heute sind sie die letzten Farmer im Ort. „Früher sprach man spöttisch von Cow Hampshire, doch von der Landwirtschaft ist nicht viel übrig geblieben. Sie aber ist das Modell unserer Demokratie“, sagt Scott, „und die Botschaft der Bibel ist in landwirtschaftliche Gleichnisse gehüllt.“ Im Verfall der Moral in Washington sieht Scott eine Fernwirkung des Niedergangs der Landwirtschaft. „McCain ist die Art ehrliche Haut mit soldatischen Tugenden, die wir in Washington brauchen“, ergänzt Frank Johnson, der wie sein Sohn ein für Neuengland typisches kariertes Wollhemd trägt.

McCain ist Vietnamkriegsvetaran und Kriegsheld. Fünf Jahre saß er in Hanoi im Gefängnis und schlug Vergünstigungen aus, die man ihm als Sohn des berühmten Admirals McCains anbot. Er versäumt es auf keiner seiner Town Hall Meetings, unter donnerndem Applaus die Veteranen aufstehen zu lassen. Für die Stärkung des US-Militärs will er sich einsetzen, was im konservativen New Hampshire populär ist.

McCains Leib-und-Magen-Thema aber ist die Korruption Washingtons: „Im letzten Verteidigungshaushalt habe ich 6,4 Milliarden Dollar gefunden, die weiter nichts als Vergünstigungen für die Rüstungsindustrie sind“, erzählt er. „Da werden C4-Transporter und ein Flugzeugträger beschafft, die das Pentagon gar nicht haben will – wir werden bald auf jeden Schulhof einen Großraumtransporter stellen können, während unsere Soldaten Sozialhilfe beantragen müssen. All das, weil Firmenlobbyisten und Wahlkampfspender den Willen der Volksvertreter kaufen.“

An die weinende Frau gerichtet, sagt er: „Madame, das ist das Elend des Geldes in Washington. Wir hätten längst ein Gesetz verabschieden können, das die Rechte der Patienten sichert, wenn meine eigene Partei nicht in der Tasche der Versicherungsgesellschaften stecken würde, die kein solches Gesetz wollen, und die Demokraten nicht in der der Anwaltsvereinigungen, die nur ein Gesetz wollen, um mehr Zivilklagen führen und dabei mehr Geld verdienen zu können.“

„Mich interessieren die Programme der Politiker eigentlich nicht“, sagt Farmer Scott Johnson. „Mir kommt es vor allem auf das Vorbild an, das der Präsident in Washington gibt.“

In Manchester am Merrimack River, dem alten Industriezentrum New Hampshires, dominiert die gediegene Backsteinarchitektur des gründerzeitlichen Neuengland. Hier, am anderen Ende des Bundesstaats, findet derweil in den Räumen des Christlichen Vereins Junger Frauen YWCA ein anderes Town Hall Meeting statt. Dicht gedrängt sitzen im Saal 200 Studenten, Hausfrauen, Schüler, Berufstätige, Lehrer und Ladeninhaber. Sie alle überragt Bill Bradley, der ehemalige Basketballstar und heutiger Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten.

Unter seinen Zuhörern sitzt im weißen Hemd und mit sorgfältig gescheiteltem Haar Noel Squires vom Notre Dame College. Er will Physiotherapeut werden. Zusammen mit seinen Kommilitonen hat er sich vorgenommen, die Positionen der verschiedenen Kandidaten zur Gesundheitsreform zu erkunden. „Bei Gore war ich schon“, erzählt er. „Der wirkt nicht echt. Bei dem ist alles Fassade.“

Noel kommt eigentlich aus Massachusetts. Er kann nicht in New Hampshire wählen, sondern erst später, wenn Vorwahlen in seinem Heimatstaat sind. Aber er ist nach Manchester gekommen, weil die Begegnung mit den Kandidaten hier unmittelbarer ist. Nach den Vorwahlen in New Hampshire findet Wahlkampf nur noch im Fernsehen und bei Zwischenstopps auf Flughäfen statt, in New Hampshire aber läuft er in Kneipen und Schulen, wo jeder hingehen kann.

„1993, als die Clinton-Regierung ins Amt kam, hatten wir Haushaltsdefizite in Höhe von 300 Milliarden Dollar jährlich und 39 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung“, sagt Bill Bradley. Seine Stimme trägt auch ohne Mikrofon, doch er spricht eher langsam und bedächtig. „Heute streiten sich die Ökonomen, ob wir in den nächsten 10 Jahren 3 oder 4 Billionen Dollar Überschüsse haben werden, dafür haben wir jetzt 44 Millionen Unversicherte.“ Noel Squires, der bisher mit fast unbewegtem Gesicht zugehört hat, applaudiert heftig.

Noel arbeitet in einem Projekt mit, das in Manchester Menschen betreut, die Physiotherapie brauchen, aber nicht bezahlen können – Krebskranke, Querschnittgelähmte, Unfallopfer. Am liebsten würde er in einem Entwicklungshilfeprojekt arbeiten. Ob er je daran gedacht hat, in die Politik zu gehen? Über sein unbewegtes Gesicht geht ein vorsichtiges Lächeln: „Ich glaube, ich wäre der ehrlichste Politiker der Welt, ich träume von einem Politiker, der immer die Wahrheit sagt, aber“ – und jetzt wird Noels Gesicht wieder ernst –, „ich verstehe nicht genug von Politik.“

New Hampshires Versuch, an unmittelbarer Demokratie festzuhalten, schlägt sich in der Zahl seiner Abgeordneten nieder. Das Parlament New Hampshires ist mit 400 Abgeordneten das größte in der Welt – pro Kopf der Bevölkerung: ein Vertreter für je 2.700 Wahlberechtigte. Außerdem werden Richter, Sheriffs, Gemeinde- und Stadträte gewählt, und das alle zwei Jahre. „In New Hampshire kennt jeder jemanden, der schon einmal ein Wahlamt ausgeübt hat“, sagt Innenminister Bill Gardner. „Hier ist Politik wie ein Hobby, mit dem man sich die Zeit im Winter vertreibt.“

Nancy Snow ist für New Hampshires Politleidenschaft ein Beispiel. Die junge Frau im eleganten Kostüm unterrichtet Politikwissenschaft am New England College und besucht Town Hall Meetings auf der Suche nach einem Kandidaten, in dessen Kampagne sie ihre Talente einbringen kann. „Politik ist für mich Sauerstoff“, sagt sie.

Nancy Snow ist Vorsitzende von Common Cause in New Hampshire, jener Organisation, die Parteispenden recherchiert und deren Herkunft offen legt. Sie neigt McCain zu. „Eigentlich komme ich eher vom linken Rand, und McCain ist sehr, sehr konservativ – in der Abtreibungsfrage zum Beispiel. Bradley aber, der eigentlich sogar das bessere Konzept hat, kommt so lahm daher, der hat kein Feuer. McCain aber bringt Leidenschaft mit.“

Sie vergleicht die Veranstaltungen der beiden: „McCain tritt in großen Räumen auf, beantwortet stundenlang Fragen und benimmt sich dabei ein bisschen wie ein Conférencier. Das ist unterhaltsam, das ist volksnah, das kommt an. Bradley hat immer zu enge Räume, beantwortet zu wenig Fragen und umgibt sich mit Professoren. So reißt man doch keine Leute mit.“

So wird wahrscheinlich die linke Aktivistin Nancy Snow in der Kampagne des Konservativen John McCain mitarbeiten. Mancher Demokrat in New Hampshire wird allerdings wie der Lehrer Stanley Lloyd McCain unterstützen – „um Bush möglichst weit weg vom Weißen Haus zu halten“, wie er sagt. „Es sei denn, die Dynamik entwickelt sich derart zu Gunsten Bradleys, dass dessen Sieg Gore eine peinliche Niederlage bereiten würde, dann müsste man doch lieber für Gore statt für McCain stimmen – oder Bradley.“ Die Stimme wird zur Karte, die man möglichst erst im letzten Moment ausspielt.

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