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Das blaue Wunder in der Krise

Achtzehn Todesfälle „in Zusammenhang mit Viagra“ – viele fordern, das Potenzmittel vom Markt zu nehmen.Neue Richtlinien sollen die Pille sicherer machen. Sind wir noch lange nicht reif für Viagra? ■ Von Manfred Kriener

Für die Boulevard-Presse ist Heinz L. „der erste Berliner Viagra-Tote“. Mit wohligem Grusel breiteten Springers Märchenerzähler Anfang der Woche die Details seines Herzinfarkts aus. Um seine Partnerin, „eine vitale junge Designerin“, zu beeindrucken, habe der 52-Jährige nach einem gemeinsamem Theaterbesuch die Wunderpille Viagra geschluckt und danach, die B.Z. hat’s gestoppt, „zwei Stunden lang, ohne Pause“ gekonnt. In der Nacht folgte starker Brustschmerz, am nächsten Tag der tödliche Infarkt. „Die verfluchte Pille“, wird die 29-jährige Frau zitiert, „hat mir meinen Freund genommen!“

Heinz L. wird als 18. Todesfall „in Zusammenhang mit der Einnahme von Viagra“, so die offizielle Sprachregelung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in die Statistik eingehen.

Der Zufall wollte es, dass der Tod des 52-Jährigen mit einem wichtigen Termin zusammenfiel: Am vergangen Freitag hatten Experten des BfArM gemeinsam mit Vertretern der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ausdauernd und kontrovers über die Zukunft des umstrittenen Medikaments diskutiert. Die Kommission hatte mit Blick auf die Todesfälle wiederholt eine Neubewertung der Erektionspille von dem für die Zulassung, aber auch für den Patientenschutz zuständigen Institut verlangt.

Das Treffen – „es war keine Krisensitzung“, versichern die Teilnehmer – endete mit einem Kompromiss: Viagra soll auch in Deutschland weiter verschrieben werden. Ärzte und Patienten werden aber intensiver über die Risiken aufgeklärt. Ohne eine sorgfältige internistische Untersuchung dürfe das Medikament künftig nicht mehr verordnet werden, sagt Karl-Heinz Munter von der Arzneimittelkommission.

Die Herstellerfirma Pfizer wird’s mit Grausen hören. Viagra war die Pille des Jahres 1999. Als exzellent wirkende, segensreiche Arznei, die müde Lenden munter macht, half sie Millionen Männern mit Erektionsstörungen: Eine Pakkung Viagra verspricht viermal Sex – für 80,50 Mark. In Deutschland wurden seit der Zulassung vor eineinhalb Jahren mehr als 500.000 Rezepte ausgestellt. Pfizer berichtet von 150 Millionen verkauften Tabletten weltweit. Damit ist das Medikament auch zu einem großen wirtschaftlichen Erfolg geworden, der den Aktienkurs in luftige Höhen trieb. Die Wirtschaftswoche schätzte den Viagra-Umsatz 1999 auf 5 Milliarden Mark.

Doch inzwischen wird vornehmlich über die Risiken diskutiert. Berichte über das Potenzmittel beginnen meist mit der Katastrophe. Ältere Herren zücken die Pillenschachtel, und greifen sich Minuten später ans Herz.

Problem ist nicht die Pille, sondern der Missbrauch

Viagra als Killer? Wie konnte ein solch radikaler Imagewandel eines Medikaments – vom blauen Wunder zum Herzstillstand – in solch kurzer Zeit erfolgen? Weltweit sollen inzwischen 500 Todesfälle dokumentiert sein. Viele Ärzte glauben, dass die Dunkelziffer weit höher ist. Viele Fälle blieben unerkannt, weil nach einem Infarkt meist nicht nach Potenzmitteln gesucht wird. Zuletzt hatte der Frankfurter Urologieprofessor Gerd Ludwig dringenden Handlungsbedarf erkannt: Es gebe kein anderes Medikament, in dessen Zusammenhang so viele Todesfälle aufgetreten seien und das noch immer auf dem Markt sei. Auch das pharmakritische Arznei-Telegramm erneuerte sein Plädoyer für eine Rücknahme. Chefredakteur Wolfgang Becker-Brüser warnt davor, uns „daran zu gewöhnen, dass dieses Mittel Tote erzeugt“.

Doch es gibt genauso viele Ärzte, die Viagra hartnäckig verteidigen. Ulrich Wetterauer, Urologieprofessor der Freiburger Uniklinik, kennt „keinen einzigen Fall“, in dem Viagra bei ordnungsgemäßer Verschreibung und Einnahme zu schwerwiegenden Folgen geführt habe. Viagra sei eines der am besten untersuchten und abgesicherten Arzneimittel. Das Problem sei nicht das Medikament, sondern der Missbrauch. Sexualität werde als Leistungssport missverstanden, Männer träumten von stundenlangen Dauererektionen und würden das Mittel – viel hilft viel – entsprechend überdosieren.

Zudem: Die Meldebögen der Todesfälle würden keine direkte Verbindung zu Viagra herstellen. Wetterauer: Einer der Verstorbenen „hatte eine Pillenschachtel einstecken, er hatte aber auch Rauschgift in der Hosentasche“.

Tatsächlich sind die genauen Umstände der Todesfälle unklar. In 6 von 17 deutschen Fällen konnte das BfArM nachweisen, dass die Gegenanzeigen nicht beachtet wurden. Das Potenzmittel hätte nicht verschrieben und eingenommen werden dürfen. Ebenso sei offen, ob die zumeist älteren Opfer nicht an der Herz-Kreislauf-Belastung des Geschlechtsverkehrs gestorben seien.

Klar ist aber auch, dass manche Ärzte bei der Verschreibung zu sorglos sind. Schwer Herzkranke dürfen Viagra nicht nehmen. Auf keinen Fall darf die Potenzpille gemeinsam mit Nitraten oder molsidominhaltigen Medikamenten verordnet werden, die bei einer Verengung der Herzkranzgefäße angezeigt sind. Wenn Ärzte solche Medikamente verordnen, sollten sie ihren Patienten gezielt fragen, ob er Viagra nimmt. Welcher Arzt traut sich das?

Und welcher Arzt will seinem Patienten das sexuelle Glück verweigern, wenn dieser die blaue Pille unbedingt haben will? Längst ist Viagra zu einem Lifestyle-Medikament und Dopingmittel geworden, das auch ohne Arzt und Apotheker bezogen werden kann. Im Internet, in Sexclubs, selbst in thailändischen Bordells wird es angeboten. Und da es um Sexualität geht, ist der Verstand öfter mal ausgeschaltet, Warnungen werden ignoriert. Ein weiteres Problem: Das Potenzmittel wird oft vom Urologen verschrieben, der für eine internistische oder kardiologische Untersuchung nicht zuständig ist.

Jetzt soll die eingehende internistische Untersuchung vor der Verschreibung obligatorisch werden. Und auch die empfohlene Dosis soll gesenkt werden, schlägt Karl-Heinz Munter von der Arzneimittelkommission vor. Er verlangt eine „intensive Aufklärungsarbeit, an der sich der Hersteller beteiligen muss“.

Pfizer sorgt sich indes vor allem um das Image. Zu viele Warnungen vor den Risiken könnten die schöne blaue Wunderpille weiter stigmatisieren. So wird Viagra auch zum Testfall gesellschaftlicher Vernunft. Munter: „Wenn wir es nicht lernen mit diesem Mittel sinnvoll umzugehen, dann müssen wir uns tatsächlich überlegen, ob es auf dem Markt bleiben kann.“

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