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Mittagessen in zehn Minuten

400 Demonstranten fordern „Mehr Zeit für gute Pflege - Jetzt". Viel interne Kritik an neuer Vereinbarung zu Gebührensätzen  ■ Von Sandra Wilsdorf

„Ich komme ja auch in das Alter“, sagt der 74-Jährige, „aber wenn ich ans Pflegeheim denke, dann kommt mir das Grausen“. Deshalb ging er gestern auf die Straße für „Mehr Zeit für gute Pflege - jetzt!“. Der Rentner war einer von - nach Polizeiangaben - etwa 400 Demonstranten, die den Aufrufen von DAG, ÖTV und den Trägern der ambulanten und stationären Pflege gefolgt waren und gegen den Pflegenotstand durch die Hamburger Innenstadt zogen.

Eine demonstrierende Altenpflegerin kann nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, was sie jeden Tag tut: „Ich mache das seit 30 Jahren, aber so schlimm wie jetzt war es seit den 60ern nicht mehr.“ Sie habe keine Zeit zum Reden, keine zum Pflegen: „Das geht alles nur nach Minuten, dabei sind wir doch auch nicht jeden Tag gleich. Und so sind auch die Alten heute gut drauf und morgen schlecht.“ Mittagessen in zehn Minuten, Duschen in zehn Minuten: „Das geht nicht immer“.

Der Freundeskreis Oberaltenallee trägt ein Transparent, das fragt: „Wo bleibt die Menschenwürde?“ Ein Mitglied sagt: „Es geht doch nicht nur um diese körperliche Pflege auf ohnehin unterem Nivaeu, es geht doch auch um die Seele.“ Viele, die vom Krankenhaus ins Pflegeheim kämen, hätten einen Verlegungsschock. „Aber niemand hat Zeit, mit ihnen zu reden.“

Jens Stappenbeck, Geschäftsführer der Hamburgischen Pflegegesellschaft (HPG), verkündete bei der Abschlusskundgebung auf dem Gänsemarkt, was er für eine gute Nachricht hält: Pflegekassen und HPG haben sich in einem lange währenden Konflikt angenähert: Der sogenannte Punktwert, mit dem sich jede Pflegeleistung ausdrücken und berechnen lässt, wird erhöht. Die Kassen haben sich bereit erklärt, statt bisher sieben Pfennig demnächst bis 7,55 Pfennig pro Punkt zu bezahlen – je nach Qualität. Kritierium dafür wird zum Beispiel sein, ob ein Pflegedienst seine MitarbeiterInnen zu Fortbildungen schickt oder seinen Betrieb zertifizieren lässt. Auch das ist neu.

Noch ist nichts unterschrieben, aber auf der Fachebene sei man sich bereits einig. Doch auf dem Gänsemarkt gibt es dafür Buh-Rufe. Das sei doch „gar nichts“ oder „immer noch viel zu wenig“. Und auch Ulrike Zeising, Pressesprecherin der AOK Hamburg, ist skeptisch: „Für die Gepflegten wird sich dadurch nichts verbessern“. Denn die Beträge, die die Kassen für die Pflegebedürftigen ausschütten, blieben nach wie vor bei 750, 1800 oder 2800 Mark, je nach Pflegestufe. Für dieses Geld bekommt man jetzt halt weniger Pflegezeit.

Der 74-Jährige hat einen Verdacht: „Das ist doch eine Scheinveranstaltung, Gewerkschaften und SPD sind doch eins. Und Frau Roth, die ist Aufsichtsratsvorsitzende von pflegen & wohnen. Sich selber kontrollieren. Wo gibt es denn sowas?“

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