Neun Jahre nach der Unabhängigkeit Kroatiens von Jugoslawien stimmten die Bürger erneut gegen die bestehenden Verhältnisse
: „Neue Zeit“ ist mehr als ein Popsong

Die Wirtschaftskrise bleibt: Die größten Firmen stehen vor dem Zusammenbruch

Wer hätte vor drei, vier Monaten gedacht, dass die seit 1990 allmächtige Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) einmal ein untergeordneter Faktor in der politischen Landschaft Kroatiens sein würde? Schließlich hatte sich die Partei unter ihrem charismatischen Vorsitzenden und Staatspräsidenten Franjo Tudjman im Laufe der Neunzigerjahre hatte fast alle Führungspositionen im Lande mit ihren Vertrauensleuten besetzt. Kroatiens Verwaltung, Wirtschaft, Justiz und Armee, die Geheimdienste, das staatliche Fernsehen und Radio – die Partei des autoritären Tudjman konnte ihren Einfluss jederzeit geltend machen.

Doch in den letzten drei Monaten hat sich Kroatien radikal verändert. Zuerst starb Präsident Tudjman und wurde unter tiefer Anteilnahme der Bevölkerung am 13. Dezember 1999 mit einem eindrucksvollen Staatsbegräbnis zu Grabe getragen. Nach dem Ende der Trauer und einem kurzen Wahlkampf folgte knapp drei Wochen später die Parlamentswahl. Sie war aufgrund des Auslaufens des Parlamentsmandates notwendig geworden und brachte der Regierungspartei einen in diesem Ausmaß unerwarteten Absturz. Nur noch knapp ein Viertel der Wähler gab der HDZ ihre Stimme. Die Oppositionskoalition „2 + 4“ mit Ivica Račan von der aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen Sozialdemokratischen Partei (SDP) an der Spitze errang hingegen beinahe zwei Drittel der Mandate. Und nicht zuletzt als Folge der Parlamentswahlen brachte der zweite Durchgang der Präsidentenwahlen vorgestern mit Stipe Mesić nun ebenfalls einen bislang in Opposition zum HDZ-Regime stehenden Politiker in dieses Amt. Die zweite große Wende in den Machtverhältnissen Kroatiens seit 1990 hat also – nach Parlament und Regierung – schließlich auch das Präsidentenamt erreicht.

Kroatien steht zur Zeit zweifellos am Beginn einer neuen politischen Ära. Wie war es möglich, dass der jahrelang unumschränkt regierenden HDZ so plötzlich und folgenschwer ihre Anhängerschaft abhanden gekommen ist? Der zentrale Werbespot von „GLAS ’99“, einem Bündnis von über 140 kroatischen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), das in den Wochen vor den Wahlen in humorvoller und sehr öffentlichkeitspräsenter Weise die Bürgerinnen und Bürger des Landes über ihre Macht als Wähler aufgeklärte, forderte damals in rockigem Ton tagtäglich „Novo Vrijeme“ – eine „Neue Zeit“ für Kroatien. Der Eindruck, dass der TV-Spot den Wunsch nach Veränderungen in breiten Schichten der Bevölkerung genau getroffen hat, trügt nicht. Die Frustration innerhalb der kroatischen Gesellschaft über die Lage ihres Landes ist groß, und im Alltag nahmen sich – anders als früher, als viele noch Angst hatten, dies zu tun – immer weniger Leute ein Blatt vor den Mund. „Sie sind Gauner, die sich ihre Taschen gefüllt haben, während es den Leuten schlechter geht, schlechter als noch während des Krieges.“ Diese laut ausposaunte Aussage eines Mannes an einer Zagreber Straßenbahnhaltestelle über die führenden Leute der HDZ ist in den letzten Wochen eine Alltagsfeststellung geworden, der nicht nur in privaten Gesprächen, sondern auch in der Öffentlichkeit kaum jemand mehr widerspricht.

Tatsächlich befindet sich Kroatien in einer schweren Wirtschaftskrise. Über 330.000 Menschen sind in dem 4,8-Millionen-Staat ohne Arbeit. Am Ende des Krieges 1995 waren es noch 241.000 gewesen. Eine Reihe von großen Firmen steht vor dem Zusammenbruch und zahlt den Noch-Angestellten keine Löhne mehr aus. Hunderttausende Pensionäre können von ihren minimalen und mitunter ebenfalls unregelmäßig ausgezahlten Pensionen kaum leben. Die lange ersehnte, in der Bevölkerung als unausweichliche Alternative für die Zukunft gesehene Annäherung an Europa hat trotz aller Signale in den letzten Jahren keine Fortschritte gemacht. Die international nicht akzeptierten Bosnienpolitik der HDZ, die Schwierigkeiten bei der Rückkehr der serbischen Kriegsflüchtlinge und die Konflikte mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag standen dem meist entgegen.

Auf der anderen Seite sind Politskandale in der Wirtschaft Dauerthemen in den kroatischen Printmedien geworden. Vor allem die bereits in Serien publizierten Aufdeckungsgeschichten über die Gewinner der unter HDZ-Regie durchgeführten Privatisierung der Wirtschaft erregten Ärger. Einer der „Tycoone“ genannten Privatisierungsgewinner schaffte es etwa in den vergangenen Jahren nicht zuletzt durch gute Kontakte zur Regierungspartei, 137 Firmen in seinen Besitz zu bringen.

Natürlich versuchte die HDZ, auf die sich abzeichnende Trendwende in der öffentlichen Meinung zu reagieren. Einige Faktoren aber verhinderten, dass dies Wirkung zeigte. Anders als früher sticht in Kroatien die nationale Karte, eine der großen Trümpfe der HDZ im Laufe ihrer Geschichte, nicht mehr. An eine nationale Bedrohung glaubt dort nur noch eine kleine Minderheit. Selbst Tudjman fiel es im letzten Jahr seiner Regierung schwer, ein Gefühl des patriotischen Zusammenrückens zu beschwören. Und als nach dem Tod des Präsidenten andere hohe Parteigranden die über die Jahre hinweg für allerlei Rechtfertigungen strapazierte Floskel „Wir haben mit allem, was wir hatten, für dieses unabhängige und demokratische Kroatien gekämpft“ einzusetzen versuchten, hagelte es Briefe, in denen gefragt wurde, ob die HDZ-Chefs – die jetzt in überbordendem Wohlstand leben – sich angesichts der vielen an der Front gefallenen jungen Männer oder nun arbeitslosen ehemaligen Kämpfer nicht schämen würden. Ein weiterer Grund für den tiefen Fall der HDZ liegt in der Tatsache, dass die Partei in verschiedene Flügel gespalten ist, die nur über die Loyalität zu Tudjman zusammengehalten wurden. Als dieser Ende vergangenen Jahres erkrankte und nicht mehr die Kraft hatte, machtvoll in das Parteileben einzugreifen, nahmen die Flügelkämpfe zu. Nach den Wahldebakeln der letzten Wochen wird die Spaltung der HDZ bei der für Anfang März geplanten Parteivollversammlung jeden Tag wahrscheinlicher.

Kroatien hat sich radikal verändert: Die nationale Karte sticht nicht mehr

Die Sieger der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Kroatien haben in ihren Regierungsabsichten vor allem eine neue Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse, eine Öffnung der Gesellschaft und insbesondere persönliche Bescheidenheit versprochen. Angesichts der allgemeinen Krise im Lande und auch aufgrund der großen Hoffnung der kroatischen Gesellschaft nach einem möglichst schnellen Beginn einer echten „neuen Zeit“, nach echten Veränderungen der gegenwärtigen Verhältnisse haben sie eine schwere Arbeit vor sich. Denn gewählt wurde bei den Wahlen dieses Jahres in erster Linie gegen die gegenwärtige Situation.

Hannes Grandits