: Never mind the facts
Eine von vielen Wahrheiten: Mit seiner Dokumentation „The filth and the fury“ hat Julian Temple 25 Jahre nach Punk der Legende der Sex Pistols nachgegraben (Wettbewerb)
Im Nachhinein wirkt es geradezu rührend, wie sich die Sex Pistols 1977 in Bill Grundys Fernsehshow „Today“ aufführen. Sie sagen „fuck“ und „shit“, erzählen, dass sie ihr Geld aus dem Plattenvertrag schon verjubelt hätten, und beschimpfen Grundy mit „Wichser“ und dergleichen mehr. Der Auftritt ist legendär, er brachte das bürgerliche England erst so richtig gegen die Sex Pistols auf.
Doch so genau weiß man eigentlich nicht, wer hier wen an der Nase herumführt: Die Sex Pistols das Fernsehen und den „alten, versoffenen Gin-Sack Grundy“ (Sex-Pistols-Biograf Tony Parsons)? Oder ist es nicht doch eher umgekehrt? Fruchtbar aber war diese Beziehung für beide Seiten, denn die einen bekamen hohe Einschaltquoten und Auflagen, die anderen ein Massenmedium für ihre fünfzehn Minuten.
Die Bandgeschichte der Sex Pistols sei „die größte Legende des englischen Volkes“, heißt es dann auch im Intro von Julian Temples Sex-Pistols-Film „The filth and the fury“. Temple weiß sehr genau, wie viele Geschichten und Legenden sich um diese Band und die gerade mal zwei Jahre ranken, in denen sie Rock ’n’ Roll und noch vieles mehr nachhaltig verändern sollten – auf der Pressekonferenz sagt er, dass es „die eine, ultimative Wahrheit über die Sex Pistols“ eben nicht gebe. 1979 hatte er zusammen mit Malcolm McLaren „The Great Rock ’n’ Roll-Swindle“ darüber gedreht, was für ein großer Witz die Pistols doch waren und wie man aus Rebellion einen Markenartikel machte. Mit „The filth and the fury“, den er aus alten Fernsehbildern, Konzertmitschnitten und neuen Interviews mit Lydon, Matlock, Jones und Cook zusammengestellt hat, scheint er diese Einschätzung nachträglich ein wenig korrigieren zu wollen – als wolle er den Pistols eine Unschuld zurückgeben, die sie nie besessen haben.
Das beginnt schon mit Bildern von Straßenkämpfen und Rassenunruhen, die suggerieren, Punk sei ein unmittelbarer Reflex auf die schlechten Verhältnisse und sozialen Konflikte im London der mittleren Siebziger gewesen. Eine von vielen Wahrheiten eben. Malcolm McLaren spricht aus dem Off, die Sex Pistols seien „sein Gemälde, seine Skulptur, seine Kreatur“, John Lydon hält dagegen, ihn hätte niemand „kreiert“, McLaren hätte nur andere Ideen geklaut.
Chronologisch erzählt Temple die Geschichte der Band von den ersten chaotischen Auftritten bis zum letzten Konzert in San Francisco, von der berühmten „Anarchy in the UK-Tour“ bis zu „God Save The Queen“, dem Nummer-1-Song, den es in den Charts nur als weißen Fleck gab. Doch man spürt auch, wie vielfach codiert diese Geschichte ist. Immer wieder schneidet Temple McLarens Einschätzungen gegen die der noch lebenden Bandmitglieder. Die sprechen fast 25 Jahre später davon (man erkennt im Übrigen nur ihre Silhouetten), dass die Punks Punk kaputtgemacht hätten („diese ewigen schwarzen Klamotten, diese Uniformität, schrecklich“), grämen sich über den Split („ohne Malcolm hätten wir weitermachen können“) und machen ganz man- und rockstar-like Nancy Spungen für den Tod von Sid Vicious und auch der Band mitverantwortlich.
Am Ende heißt es, dass sie sich zum richtigen Zeitpunkt auf falsche Art und Weise getrennt hätten. Wenn John Lydon schluchzt, als er über den Tod von Sid Vicious räsonniert, weiß man, dass für die Beteiligten die Geschichte der Sex Pistols niemals zu Ende geht. Und dass Julie Burchill und Tony Parsons nicht so ganz Recht hatten, als sie 1978 schrieben: „It’s only Rock ’n’ Roll, and it’s plastic, plastic, yes, it is.“ Gerrit Bartels
„The Filth and the Fury“. Regie: Julian Temple, GB, 105 Min.
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