Die Ordnung der Dinge

Wo fiese Platten das Überleben sichern müssen, kann allein eine falsche Frage an den Grundfesten einer geordneten Welt rütteln: Ein diskursiver Exkurs über das komplizierte Regelwerk von Schallplattenläden ■ Von Tobias Rapp

Schallplattengeschäfte sind nicht einfach nur Läden, sie haben ein Thema: Die Ordnung der Dinge. House, Techno, Drum 'n' Bass, Elektro, Disco, Musik aus Köln, Ambient, Jazz, Easy Listening, Reggae, Soul-Funk, Soundtracks, HipHop, Reissues, Compilations, Neuheiten, USA, England, Deutschland. Orientieren sich die Ordnungssysteme von Buchläden zumeist an der preußischen Bibliotheksordnung, gibt es Ähnliches nicht mal ansatzweise für Schallplatten – in Diskotheken wird ja, wenn es gut läuft, alles wild durcheinander geworfen.

Und weil es keine amtlich kodifizierten Kriterien für die Ordnung von Platten gibt, ist die Ordnung der Platten eine Glaubensfrage. Die abstrakte Einordnung noch mehr als die konkrete Sortierung. Und Plattenläden sind der Jungsworld zugehörig. Dafür stehen sie sogar modellhaft, was die Frage nach der Ordnung noch einmal radikalisiert.

„Habt ihr schon die neue Thomas Brinkmann?“ – „Nee, die ist noch nicht da, aber die neue Elektro von Kotai.“ – „Und wie is?“ – „Ja, is super.“ – „Cool.“ – „Musst du mal bei den Neuheiten gucken.“ – „Sag mal, da gibt es doch diese Reihe, wo sie diese Endsiebziger-Disco-12-Inches wieder veröffentlichen?“ – „Ja, du meinst diese Sowieso-Paradise-Garage-Irgendwas, ich weiß nicht so genau, ob wir die noch ... warte mal, ich schau mal nach.“ (Spätestens hier drängelt sich dann jemand dazwischen und möchte ...) – „Hey, ich hätte gerne ,Contact‘ von Sven Väth.“ / „Habt ihr schottische Dudelsackmusik?“ / „Ich suche diese Tracy-Chapman-Platte, wo sie irgendwie so auf dem Cover ist.“

Das sind alles falsche Fragen. Wer Plattenläden betritt, hat besser eine gute Frage. Weil hier die Welt geordnet wird, stellen Fragen nach Objekten, die jenseits des gepflegten Systems existieren, die ganze Welt in Frage und rütteln an deren Grundfesten. Da heißt es dann: „Solche Platten sind fies, halten unseren ganzen Laden aber am Laufen. Und damit mich!“ Oder: „Wow, obskurer Kram ist gut, haben wir aber nicht. Was mag es noch alles an obskurem Kram geben, von dem ich nichts weiß?!“

Oder es ist die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und Form, die die geordnete Welt ins Wanken bringt: „Wie schlau bin ich eigentlich? Es ist eh alles relativ, ich stehe doch auch auf Suzanne Vega.“

Die meisten Plattenhändler sind DJs. Die meisten DJs wiederum sind nur Plattendreher geworden, weil sie sich ungern unterhalten, ungern tanzen, aber trotzdem irgendwie auf Partys und in Clubs gehen wollen. Sie haben sich so eine Funktion erarbeitet, in der man all dies verbinden kann und gleichzeitig noch die Illusion von Definitionsmacht mitgeliefert bekommt. Dementsprechend stark ist das Plattenverkaufen vom diskursiven Sicherheitsbedürfnis geprägt. Außerdem könnte jede Platte die letzte sein. Nicht nur, weil die Auflagen meist klein sind und Vinylplatten nur noch ein randständiges Medium – verkauft ist verkauft. Und wenn diese Platte weg ist, fehlt sie. Wenn sie fehlt, ist sie verloren. Wenn sie verloren ist, ist das Gleichgewicht der Welt in Gefahr.

Hat man seine Frage beantwortet bekommen und die Platte und vielleicht noch drei weitere in den Händen, kann man sie anhören. Auch das folgt einem komplizierten Regelwerk. Denn man kann sich entweder an einen der Plattenspieler stellen und sie durchhören: Also Nadel draufsetzen, fünfzehn Sekunden hören, ein Stück weiter gehen, noch mal reinhören, nächstes Stück, umdrehen, andere Seite, reinhören, nächste Platte. Eine Platte vom Anfang bis zum Ende durchzuhören zeugt von Eigentlich-fehl-am-Platze-Sein.

Oder man bekommt sie am Verkaufstresen aufgelegt. Dann muss man sie aber auch vom Anfang bis zum Ende laufen lassen. Manche Läden haben auch einen kleinen Nebenraum, wo man sich die Platte über Lautsprecher anhören kann. Oder es gibt ein DJ-Pult hinter dem Counter, wo illustre DJs ihre Platten auflegen, denen man wiederum zuhören kann, während man in den immer gleichen Fächern wühlt und die immer gleichen Platten durch seine Hände gehen lässt.

Denn so groß ist die Welt dann doch nicht, und jeder Laden rollt sie aus seiner Perspektive auf. Wobei die Schnittmenge aller Plattenläden erstaunlicherweise Reggae ist. Compilations von raren Dubreggae-Stücken der mittleren Siebziger bekommt man, egal ob das Geschäft sich einer Unterabteilung des Dancefloor-Planeten widmet oder aus einer Independent-Postrock-Tradition kommt. Wahrscheinlich weil es kein Genre gibt, das gleichzeitig so abgelegen und Do-It-Yourself-durchkatalogisiert ist wie Reggae.

Und am Ende des Tages ist jeder Plattenhändler nicht nur von seinem Habitus her eine Mischung aus kleindealendem Junkie und Dozent ohne Aussicht auf eine Professur: Ganz real sind es meist abgebrochene Studenten, die jeder Art von Drogenkonsum wohlwollend gegenüberstehen. Und die meisten Läden bezahlen ihre Angestellten ohnehin nur theoretisch, weil die Verkäufer praktisch lieber Schallplatten mit nach Hause nehmen als Geld.