piwik no script img

Brave Bürger aufder Wild Side

Markentheater für Ohrenstöpsel: Robert Wilsons und Lou Reeds Hamburger „POEtry“. Ein Abgesang ■ Von Christiane Kühl

Vielleicht muss man die Sache längst ganz anders angehen. Vielleicht muss man fragen: Sie mögen Musicals, doch „Cats“ ist Ihnen zu abgespielt und „Das Phantom der Oper“ zu banal? Dann gucken Sie sich in Hamburg doch mal etwas fürs gehobene Stilempfinden an! Der amerikanische Bühnenzauberer Robert Wilson, so müsste formuliert werden, und die Rocklegende Lou Reed zeigen dort „POEtry“. Ein äußerst perfides Musiktheaterstück. Ohne Herzschmerz, ohne Handlung, dafür Bilder von aberwitziger Schönheit. Elegante, abgefahrene Kostüme und ein schier überwältigendes Bad von Lichtstimmungen erwarten Sie. Dazu Musik mit dem Authentizitätsstempel. Ein Fest für die Sinne, besonders die intellektuelleren unter ihnen.

Wenn man die Sache richtig herum angeht und in ihrem historischen Kontext betrachtet, sieht sie allerdings ganz anders aus. Dann gehört „POEtry“ zu den traurigsten Veranstaltungen, die derzeit auf Deutschlands großen Bühnen geboten werden. Und das nicht obwohl, sondern weil Wilson und Reed große Künstler sind.

Der Regisseur, Architekt, Bühnenbildner und Lichtdesigner Bob Wilson hat das Theater des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst, und zwar vor allem das europäische, weil in den USA Nicht-Broadway-kompatible Avantgarde bis heute im Wesentlichen ignoriert wird. In den Siebzigern, als junges Theater sich produktionstechnisch am Hippiesken und theaterhistorisch am Armen Theaters Grotowskis oder am Agitprop Boals orientierte, bildete der Texaner mit seinem kühlen Ästhetizismus einen extremen Gegenpol. Keine Psychologie, keine Botschaft, stattdessen sich selbst genügende Tableaus. Während das Bread and Puppet Theatre und das Living Theatre die Welt verändern wollten, war für Wilson Haltung auf der Bühne eine Frage der Geometrie. Der große Durchbruch gelang mit „Einstein on the Beach“ (1976) und „Death, Detroit and Destruction“, uraufgeführt 1979 an der Berliner Schaubühne. Seitdem hat sich die Welt extrem verändert. Das Theater Robert Wilsons nicht.

„POEtry“ ist das vierte Musiktheaterstück, das der stets schwarz gekleidete Mann am Hamburger Thalia Theater produziert hat. 1990 entstand „The Black Rider“, eine clever komische Bearbeitung des „Freischütz“-Motivs mit Musik von Tom Waits, 1992 folgte „Alice“ – gleiche Künstler, gleiches Konzept, aber ungleich fader – und 1996 „Time Rocker“ nach H. G. Wells mit Musik von Lou Reed. Auch diese Produktion konnte an den Erfolg von „The Black Rider“ nicht anknüpfen. Weil’s aber irgendwie doch alles so schön war und vermutlich so schön nie wieder werden wird, da der Thalia-Intendant Jürgen Flimm bald das Haus verlässt, hat man sich entschlossen, der als Trilogie angelegten Serie einen vierten Teil anzuhängen. Diesmal nahm man den Schriftsteller Edgar Allan Poe zur Vorlage. Das Sprechtheaterensemble steht gleich im ersten Bild als Chorus Line an der Rampe und schmettert programmatisch „These are songs of Edgar Allan Poe / If you haven’t heard of him / you must be deaf or blind.“ Das Publikum aber arbeitet schon zu diesem Zeitpunkt mit Vehemenz an der eigenen temporären Taubheit. Überall sieht man gepflegte Finger verzweifelt in gepflegten Ohren stecken. Brave Bürger, die nicht hören wollten: Hatte man doch jeden einzelnen an der Garderobe darauf hingewiesen, dass man mit „der Lautstärke eines Rockkonzerts“ rechnen müsse, und gelbe Ohrenstöpsel verteilt. Das muss man sich in seiner ganzen Traurigkeit mal vor Augen führen: Bei der Uraufführung der jüngsten Kompositionen von Lou Reed, anwesend, rät der Veranstalter, sich Stöpsel in die Gehörgänge zu schieben.

Auf der Bühne wechselt unterdessen das monochrome Licht von Rot zu Blau zu Grün. Oder umgekehrt. Hohe Stühle stehen da und ein spitzes, schmales Haus. Diesmal heißt es das Haus von Usher. Texte von Poe, in Reedscher Version, werden häppchenweise auf Deutsch und Englisch eingestreut. Um Alb geht es hier offensichtlich; Differenzierteres ist in der Zitatflut kaum auszumachen. Darsteller bewegen sich mechanisch, halten die Augen auf einen fernen Punkt gerichtet. Sie tragen, sofern sie männlich sind, meist schmale Mäntel und, sofern sie weiblich sind, unten ausgestellte Kleider. Die Haare stehen aerodynamisch nach hinten. Jacques Reynaud hat sich bei den Kostümen und der Maske offensichtlich Mühe gegeben, alles so aussehen zu lassen, wie es auch bei Wilsons langjähriger Ausstatterin Frida Parmeggiano ausgesehen hätte. Und Wilson gab sich Mühe, alles nach Wilson aussehen zu lassen. Wie kann man nur so wenig wollen?

„POEtry“ ist die fünfte Arbeit Wilsons am Thalia, aber es könnte auch seine dritte oder siebte sein, so austauschbar sind die Elemente. Verwundern kann diese Beliebigkeit kaum angesichts der Unzahl von Produktionen, die der Jet-setter stets parallel zwischen New York, Singapore und Italien zusammenstellt. Seine Name ist längst Markenname, und wer sich einen Wilson kauft, der kriegt auch einen, egal ob fürs Theater, Konzert oder die Millenniumsfeier. Überraschungen ausgeschlossen.

Variieren tut allein die Zahl szenischer Einfälle, die sich dem Zuschauer im Bilderstrom doch einbrennen. Diesmal sind das etwa drei: ein komischer, wo der nervig endlos kichernde Schüler (Björn Grundies) von einem Baum aus der gemalten Kulisse erschlagen wird. Ein schöner, wo ein kopfloser Mann (Christoph Tomanek) seinen Schatten unter einem übergroßen Porträt tanzen lässt. Und ein ergreifender, wenn Angelika Richter als Lenore die Szene zu dem Gedicht „The Raven“ mit einer leicht gebrochenen A-capella-Version von Lou Reeds „Perfect Day“ einleitet.

Der Song von 1972, den man getrost zu den schönsten des 20. Jahrhunderts zählen darf, macht gleichzeitig eine Diskrepanz offensichtlich, die man so deutlich nicht hätte aufreißen sehen wollen. So schlicht und perfekt „Perfect Day“ ist, so bemüht schmissig wirken Reeds Rockkompositionen für das Theater. Die Szenenmusik ist atmosphärisch dicht, doch die Songs so banal wie eine Neuauflage vom „Little Shop of Horrors“.

Bei der Uraufführung am Sonntag amüsierte sich das überwiegend grau melierte Publikum nur mäßig. Wohlerzogen wurde nach jedem Song geklatscht, am Ende ausdauernd. Bis Lou Reed himself auf die Bühne trat und den Song vom „Guardian Angel“ selbst interpretierte. Ohne Schmiss. Und plötzlich bedeutete es etwas. Das gepflegte Publikum sprang elektrisiert von den Sitzen, ganz so, als seien diese Sixtysomethings mehr als nur numerisch die Generation des Künstlers. Da sind der Rezensentin die Tränen gekommen. Weil so offenbar wurde, dass man von der wild side immer in alle Richtungen gehen kann.

„POEtry“. Libretto und Musik: Lou Reed, szenisches Konzept: Robert Wilson. Mit: Ensemble. Thalia Theater Hamburg. Nächste Aufführungen: 18., 19., 20., 21. Februar 2000

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen