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In China erstarken die religiösen Gruppen. Sie sind inzwischen die größte Herausforderung für die kommunistische FührungDer neue Opiumkrieg

Geheimgesellschaften waren stets Vorboten des Endes einer Dynastie

Gerade ist wieder ein katholischer Bischof verhaftet worden, 140 bereits inhaftierte Anhänger der buddhistisch-taoistischen Meditationssekte Falun Gong sind in den Hungerstreik getreten. Dies berichteten Menschenrechtsorganisationen zu Wochenbeginn; es sind die vorerst letzten Meldungen über den Kampf der chinesischen Regierung gegen religiöse und quasireligiöse Gruppen.

Chinas Kommunistische Partei hat ein Religionsproblem. Sie liegt zur Zeit mit allen in der Volksrepublik vertretenen Religionen über Kreuz. Wenn Religion Opium für das Volk ist, wie Karl Marx schrieb und Chinas atheistische Führer glauben, dann tobt im Reich der Mitte fast ein neuer Opiumkrieg. Die Staats- und Parteiführung versucht die Religionen wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Doch das ist kaum möglich, weil Chinas Kommunisten längst die geistig-spirituelle Lufthoheit verloren haben. Die Argumente und Kampagnen, mit denen die nicht genehmen Religionen bekämpft werden, sind wie Rückgriffe in die maoistische Mottenkiste.

Seit Mitte der 80er-Jahre gibt es in China ein Religionsfieber. Nach dem Albtraum der Kulturrevolution und der Einführung der „sozialistischen Marktwirtschaft“ bietet der Maoismus längst keine Inspiration mehr. Doch auch der von Deng Xiaoping gepredigte Materialismus („Reich werden ist ruhmvoll“) kann nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Die Parteiführung hält zwar an der sozialistischen Rhetorik fest, doch ihre Politik steht dazu im Widerspruch. Dies wird von der Bevölkerung als ideologischer Bankrott wahrgenommen. Der Kommunismus hat auch in China keine Zukunft mehr.

In dieses spirituelle Vakuum drängen mit wachsendem Erfolg verschiedene religiöse und quasireligiöse Grupen. Sie bieten geistigen Halt für eine Bevölkerung, die vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel verunsichert ist. Zum Ärger der KP-Führung sind inzwischen auch viele Parteikader religiös, denn auch sie wissen nicht mehr, woran sie noch glauben sollen.

Pekings Religionspolitik schwankt zwischen Vereinnahmung und Unterdrückung. Die Verfassung erlaubt seit 1982 „normale religiöse Aktivitäten“. Mit ihnen wird heute auch viel toleranter umgegangen als in der Kulturrevolution, als alle Religionen brutal unterdrückt und religiöse Stätten zerstört wurden. Religiöse Betätigung wird heute akzeptiert, wenn es sich um die fünf offiziellen Religionen (Buddhismus, Taoismus, Protestantismus, Katholizismus und Islam) handelt und sie innerhalb deren „patriotischen“ Vereinigungen, also unter Pekings Kontrolle, praktiziert wird. Wer jedoch auf religiöser Selbstbestimmung jenseits der Einheitsfrontpolitik besteht oder an das glaubt, was die Regierung „Aberglaube“ nennt, wird verfolgt.

Die zahlreichen Formen der Volksfrömmigkeit, die Chinas Führern seit je ein Dorn im Auge sind, werden nicht anerkannt. Dieser Glaube äußert sich in Sekten, Kulten und religiös-abergläubischen Mischformen, die auch traditionelle Elemente bis hin zum Schamanismus und der Geomantik einschließen. In Chinas Geschichte war das Anwachsen solcher zum Teil äußerst bizarren Gruppen bis hin zu quasireligiösen Geheimgesellschaften stets Vorbote des Endes einer Dynastie. Dessen dürften sich Pekings Führer heute so bewusst sein wie des osteuropäischen Beispiels, wo die Kirchen viel zum Zusammenbruch des Sozialismus beitrugen.

Doch Chinas Führung bekommt das religiöse Erwachen weder mit Unterdrückung noch mit Vereinnahmung unter Kontrolle. Ein halbes Jahr nach dem Verbot von Falun Gong werden noch immer fast täglich Anhänger der Sekte verhaftet und zunehmend auch andere Qi-Gong-Bewegungen unterdrückt. Die Behörden gehen gegen protestantische „Hauskirchen“ wie auch gegen die vatikantreue katholische „Untergrundkirche“ vor, die sich jeweils nicht von Peking kontrollieren lassen wollen. Mit einer Parallelweihe eigener Bischöfe torpedierte Chinas Führung zum Jahresbeginn die Annäherung an den Vatikan. Die Flucht des Karmapa, des dritthöchsten tibetischen Religionsführers, zeigt das Scheitern von Pekings Versuch, Einfluss auf den tibetischen Buddhismus zu bekommen. Gespannt ist auch das Verhältnis zum Islam, der die Unabhängigkeitsbewegung der Uiguren im nordwestlichen Xinjiang eint. Peking versucht dort islamistische Einflüsse aus den Nachbarländern zurückzudrängen, erreicht mit seiner Härte aber genau das Gegenteil.

Das Religionsfieber wurde auch durch die Unterdrückung der Demokratiebewegung gefördert. Allerdings wäre der Umkehrschluss falsch, dass eine Demokratisierung Chinas automatisch das Ende der religiösen Bewegungen bedeuten würde. Denn die Demokratie mag den Chinesen als abstraktes System zwar durchaus positiv erscheinen. Doch für viele sind die untereinander zerstrittenen Vertreter der heimischen und exilierten Demokratiebewegung wenig überzeugend; auch wirken Russlands Erfahrungen mit der Demokratie nicht besonders attraktiv. Kontraproduktiv ist ebenfalls die Chinapolitik der westlichen Demokratien, die oft als verlogen empfunden wird, weil sie sich stark an innenpolitischen Kriterien ausrichtet und häufig von Doppelmoral geprägt ist.

Religion bietet da ein Refugium des Geistes und im Unterschied zur Demokratiebewegung auch konkrete Hilfe. Die religiösen Gruppen geben spirituellen Halt, haben eine klare Lehre und in Zeiten wachsenden Sittenverfalls einen zwar rigiden, aber gerade deshalb attraktiven Moralkodex. Sie versprechen in unterschiedlicher Form individuelles Glück, bieten aber auch die Nestwärme, Hilfe und Solidarität der früheren Arbeitseinheiten. Falun Gong und andere Qi-Gong-Schulen, die sich nicht einmal als religiös bezeichnen, versprechen mit ihren Meditations- und Atemübungen auch körperliches Wohlbefinden und Gesundheit in Zeiten steigender Kosten für die medizinische Versorgung. Der Buddhismus der Tibeter und der von nationalen Minderheiten praktizierte Islam sind außerdem stark identitätsstiftend.

Inzwischen sind auch viele Parteikader religiös – sehr zum Ärger der KP-Führung

Im Vergleich zur Demokratiebewegung bieten die Religionen vermeintlich einfache Lösungen an. Chinas Kommunisten, die der Wille zum Machterhalt eint, betrachten die Religionen schon deshalb argwöhnisch, weil sie viele Menschen außerhalb der Partei zusammenkommen lassen. Für eine Partei, die ihren Glauben verloren hat, müssen andere mit einem festen Glauben bedrohlich sein.

Die Religionen tragen auch zur Pluralisierung Chinas bei. Doch Religiosität, erst recht in Form fragwürdiger Sekten und Kulte, kann politische Aufklärung, Emanzipation und die oft mühsamen gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesse nicht ersetzen.

Sven Hansen

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