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Modernes Leben

Neue Bücher kurz bespochen

von Volker Weidermann

Lebensflüchter

Bernhard Schlink ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der vergangenen Jahre. Der Triumph mit seinem letzten Roman „Der Vorleser“, der in den USA Platz eins der Bestsellerlisten eroberte, ist schon legendär. Hauptberuflich ist Schlink allerdings immer noch Juraprofessor an der Berliner Humboldt-Uni, der in letzter Zeit seine Studenten etwas nervt, weil er ständig ein Kamerateam hinter sich herzieht, das die außergewöhnliche Doppelbegabung filmen will. Über seine juristische Begabung können wir leider nichts sagen. Als Schriftsteller ist Schlink ein handwerklicher Meister.

Ja, Meister. Die Geschichten in seinem neuen Buch „Liebesfluchten“ sind fast perfekt. Alle ganz klassisch aufgebaut, schön knapp geschrieben, klar und präzise. Da steht kein Wort zu viel, kein Motiv läuft ins Leere. Da hat ein Fanatiker des Details unendlich viel daran gefeilt. Eine handwerkliche Meisterschaft, die das Lesen aber manchmal auch etwas unspannend macht, unaufregend, überraschungsfrei: Es geht alles so glatt auf, es gibt keine harten Brüche, alles baut logisch und konsequent aufeinander auf, fließt so dahin und weg.

Dass das Lesen trotzdem nicht langweilig wird, liegt am Tempo, am schnellen Erzählen Schlinks. Von einem kurzen Satz zum nächsten ist das Leben der Protagonisten oft ein anderes geworden. Über einen Architekten am Karrierelebensstart heißt es zum Beispiel: „Er machte Jutta, die als Studentin in seinem Büro Praktika gemacht und gerade ihr Diplom bekommen hatte, zu seiner Partnerin. Sie baute Dächer aus, er baute Brücken. Als sie von ihm ein Kind erwartete, heirateten sie.“ So rasant, so kurzweilig.

Dass hier von einem Architekten die Rede ist, ist übrigens eine Ausnahme. Normalerweise sind die Figuren, die im Zentrum von Schlinks Geschichten stehen, Juristen: Verfassungsrichter, Völkerrechtler, Jurastudenten, Doktoranden. Scheinbar wenig verhüllte Alter Egos des Nebenberufsautors, die allesamt in einer ordentlichen Lebenskrise stehen. Sie haben die Sorge, das falsche Leben zu leben, und das heißt meist, die falsche Frau zu lieben. Die Männer in Schlinks Geschichten sind unbeirrbare Romantiker, die von der Wirklichkeit gelangweilt sind, die lange Zeit ein Bürgersleben lebten und sich dabei all die Zeit innerlich als Abenteurer fühlten. Es sind Denker und Zweifler, Lebenssucher und feige Männer, die, wenn es gilt eine Entscheidung zu fällen, lieber davonlaufen und so lange am neuen Lebensort und Liebesort weiterleben, bis ihnen die Forderungen des Tages wieder über den Kopf wachsen. Sie wollen Künstler sein und frei und trauen sich nicht wirklich, die bürgerliche Existenz abzulegen.

Bernhard Schlink kennt diesen Typ von Mann sehr gut. Vielleicht hat er Ähnlichkeit mit ihm. Wissen wir nicht. Jedenfalls schildert er diese Herren mit so großer Sympathie und Seelenkenntnis, dass man als Leser kaum umhin kann, sich mit diesen Lebensflüchtlingen solidarisch zu fühlen. Wenn sie leiden bis zum Schluss unter der Nichtabstellbarkeit des Denkens und noch den Todesaugenblick verkrampft erleben, wie dieser Schlinksche Held: „Er war traurig, dass in den letzten Momenten nicht der Film seines Lebens vor ihm ablief. Er hätte ihn gern gesehen. Er hätte gern nichts getan, sich entspannt und zugeschaut. Statt dessen musste er bis zum letzten Moment denken.“Bernhard Schlink: „Liebesfluchten. Geschichten“. Diogenes Verlag 2000. 308 Seiten. 39,80 DM

Weltentdecker

Wir gratulieren: Calvin! Dem großen Meister des Eigensinns, dem widerständigen Bewahrer der eigenen Welt gegen die Ansprüche der so genannten Wirklichkeit, dem König der Kindheit, dem kleinen Helden der großen Comicwelt. Glückwunsch, Glückwunsch! Vor gut fünfzehn Jahren setzte ihn sein Erfinder, der Comiczeichner Bill Watterson in den USA in die Welt. Vor zehn Jahren erschienen seine Geschichten – in leider sehr mäßiger Übersetzung – zum ersten Mal auf Deutsch.

Wir begehen hier also heute seinen zehnten Geburtstag und wir verschenken: Pizza vom Bringservice auf Lebenszeit und für immer Schluss mit den Abendbetreuungen durch die verhasste Babysitterin Rosalyn. Dann wird sein Leben, das schon jetzt ein ziemlich großartiges ist, ein perfektes sein. Und uns schenken wir zur Feier des Tages das „Calvin und Hobbes“-Jubiläumsalbum, das der Krüger Verlag pünktlich zum Geburtstag herausgebracht hat.

Wer Calvin nicht kennt, der sollte ihn kennen lernen. Eigentlich ist er ja erst sechs Jahre alt und er wird wohl für immer sechs Jahre alt bleiben. Denn es gibt natürlich gar keinen Grund fürs Älterwerden. Höchstens die Eltern könnten etwas drängen, denn sie finden einen Sechsjährigen als Sohn eher anstrengend. Der Vater betont ohnehin gern bei jeder Gelegenheit, dass er die Anschaffung eines Hundes vorgezogen hätte.

Nun ist er aber nun mal da. Und nicht nur er. Sein Tiger Hobbes ist immer mit dabei (wenn er nicht gerade von Calvins Intimfreundin Susie Derkins an ihre Teetafel gezwungen wird). Ignoranten sagen, er sei aus Stoff. Wir dagegen wissen, er ist der beste Freund der Welt. Ein Spötter, ein Kämpfer, gutmütig, intelligent und „auf eine Art Pirsch-und-Sprung-Manier begeisterungsfähig“, wie Watterson das beschreibt. Mit diesem virtuellen Freund für die Ewigkeit ist die Ausweitung der Spaßzone ins Grenzenlose möglich.

In Calvins Welt ist alles möglich. Die Erde ist noch längst nicht ganz entdeckt. Der kleine Herr ist gerade erst angekommen und hat so manche Fragen. An alles. Und Vermutungen. Und Wünsche. Und Vorstellungen. Wie die Welt wohl ist und wie sie sein könnte. Und sicher ist nur, dass nichts so sicher ist, dass man es nicht ändern könnte. Sofort. Und nur nach seinen Wünschen.

Der Comiczeichner Garry Trudeau hat einmal geschrieben: Na ja, das Reich der Kindheit sei ja eine recht exklusive Sache und jede Menge Erwachsene versuchten da mit allerlei lächerlichen Geistesverrenkungen und Wahnwitzeleien wieder einzudringen und das Unwiederbringliche zurückzuzwingen. Die Eifrigsten von jenen landeten in Irrenhäusern, meint Trudeau. Wir anderen, etwas Vernünftigeren, lesen Calvin und Hobbes.Bill Watterson: „Calvin und Hobbes. Das Jubiläumsalbum“. Krüger Verlag 1999. 208 Seiten. 29,80 DM

Kämpfer

Auch Andrew Vachss ist ein schreibender Jurist. Wie Bernhard Schlink. Beide sind 56 Jahre alt. An Gemeinsamkeiten dürfte das aber auch schon alles sein. Während Schlink nebenberuflich von feingeistigen Denkern und Zweiflern, von Liebesflüchtlingen und Kunstsehnsüchtlern schreibt, geht es bei Vachss um „das Leben da draußen“. Um den Kampf gegen das Böse in Downtown New York. Klar, dass Vachss auch nicht etwa eine Juraprofessur an irgendeiner Eliteuni hat, sondern ein Anwaltsbüro, das ausschließlich Kinder und Jugendliche vertritt, die sexuell missbraucht wurden.

Vachss ist ein Besessener. Ein besessener Kämpfer gegen Kinderprostitution und Kindesmissbrauch. Und das Bücherschreiben hat er, wie er sagt, vor fünfzehn Jahren nur deshalb begonnen, um ein größeres Publikum auf das Thema seines Lebenskampfs aufmerksam zu machen. Und Burke, der Held von Vacchss’ Thrillern, der als Kämpfer gegen das Böse in New York vorgeht, wo immer er es findet, ist auch schon längst ein Popstar geworden. Und sein Erfinder reist von Land zu Land, von Talkshow zu Talkshow, um Unterstützung für die gute Sache zu sammeln, die er vertritt. Denn dass seine Sache die gute ist, daran gibt es keinen Zweifel.

Auch Burke zweifelt nicht. Burke ist eine Art Privatdetektiv im Auftrag des Guten. Und was gut ist, bestimmt er. Graustufen gibt es keine. Hier wird hart gerichtet. Gut und Böse. Schwarz und Weiß. Das Böse wird mit allen Mitteln bekämpft. Mit allen. Denn wenn du es nicht tötest, tötet es dich. Seine Leser haben ihm oft vorgeworfen, er schildere die Welt zu hässlich, zu schlecht und zu gefährlich. Das Gegenteil ist der Fall, sagt Vachss. Die Welt, zumindest in New York, ist noch viel hässlicher, die Menschen viel grausamer, als er sie sich zu schildern getraut. Die Leute haben nur nicht den Mut, genauer hinzusehen. Burke hat den Mut, der aus einer echten moralischen Empörung kommt.

In Wirklichkeit ist Burke kein mutiger Mann. Im Gegenteil. Burke hat Angst. Seit frühester Kindheit, die er als Waise in den verschiedensten Kinderheimen New Yorks verbracht hat. „Das einzige, was mir einfällt, wenn ich an meine Kindheit denke, ist ein so allumfassender Schrecken, dass die Angst mein einziger Freund wurde. Der immer bei mir war. Mich warnte, dafür sorgte, dass ich wachsam blieb. Misstrauisch.“ Wachsamkeit und Misstrauen sind die größten Stärken des Sonderermittlers Burke. Die Beschreibungen der sorgfältigen Vorbereitungen auf ein konspiratives Treffen oder auch nur ein einfaches Telefonat können oft bis ins kleinste Detail hinein über mehrere Seiten beschrieben werden. Dem Zufall darf nichts überlassen bleiben, denn der Zufall kann tödlich sein.

Neben der großen moralischen Kraft, mit der Vachss erzählt und mit der Burke seine Fälle löst, sind es vor allem die immer wiederkehrenden Rituale, die Vachss-Krimis so angenehm machen. Nach dem dritten Buch etwa gehört man schon mit zur Familie und liebt Pansy, den neapolitanischen Mastino, und die ganze Burke-„Familie“, mit dem taubstummen Kämpfer Max, dem dichtenden Strategen Prof, mit Maulwurf, dem Schrottplatzbewohner, der Transsexuellen Michelle und Mama, der notorischen Suppenkocherin, als hätte man schon ein Leben lang mit ihnen zusammen gekämpft.Andrew Vachss: „Safe House“. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Eichborn 1999. 390 Seiten. 39,80 DM

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