: Das eine Dnjestr-Ufer
Transnistrien strebt nach Unabhängigkeit von Moldawien. Wirtschaft und Politik hängen von Russland ab ■ Aus Tiraspol Barbara Oertel
„Pridnestrowskaja Moldowskaja Respublika“ – Transnistrische Moldawische Republik – verkündet die Schrift in großen Lettern auf dem Tableau. Rechter Hand davon steht, fest verankert auf einem Eisengestänge, eine graue Stahlröhre. An der Seite flattert die Fahne der moldawischen Sowjetrepublik. Als einer der Grenzposten einen Fotoapparat erblickt, springt er die Treppe hinunter und verlangt energisch die Herausgabe des Films.
Sein Kollege übertrifft ihn noch an Unfreundlichkeit. „Ausländer, die sich länger als drei Stunden bei uns aufhalten, müssen eine Anmeldung vorweisen. Wo ist denn Ihre?“, faucht er. Auch eine Einladung des Stadtrates von Tiraspol scheint ihn zunächst nicht sonderlich zu beeindrucken. Schließlich winkt er den Kleinbus doch durch. „Das ist ein Land der Banditen und Diebe. Hier weißt du nie, was dich erwartet. Es gibt weder Gesetze noch Garantien“, sagt der Fahrer Wolodja, ein Russe aus der moldawischen Hauptstadt Chisinau.
Am Stadtrand von Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens mit 182.000 Einwohnern, hat das High-Tech-Zeitalter Einzug gehalten. Dort hat sich eine supermoderne Tankstelle mit Mini-Supermarkt und 24-Stunden-Service breit gemacht. Inhaber ist die Firma Sheriff, ein dubioser Konzern, der in Transnistrien nicht nur mehrere Tankstellen, sondern auch Supermarktketten betreibt. Gerüchten zu Folge soll die Familie des transnistrischen Präsidenten Igor Smirnow – ein ehemaliger Raketeningenieur aus Kamtschatka und seit Dezember 1991 erster Mann in Transnistrien – die Hälfte der Anteile halten.
Überhaupt gilt Transnistrien als schwarzes Loch, wo mafiose Gruppen mit Schmuggelgeschäften und Drogenhandel das große Geld machen. Offenbar sind bei Sheriff nur echte Kunden gern gesehen. Als die Frage des herbeigeeilten Tankwartes nach einer Tankfüllung abschlägig beschieden wird, macht er eine eindeutige Handbewegung. „Aber ganz schnell“, setzt er noch hinzu.
Einige Meter weiter, am Beginn der Hauptstraße Tiraspols, springen dem Betrachter von einem riesigen Plakat Hammer und Sichel entgegen. „1990–1999: Neun Jahre Transnistrische Moldawische Sowjetrepublik. Wir gratulieren zum Fest“, ist darunter zu lesen. Ob die Bevölkerung – von 600.000 Einwohnern sind 28 Prozent Ukrainer, 23 Prozent Russen und 41 Prozent Moldawier – das Fest im vergangenen Jahr hat genießen können, scheint zweifelhaft. Denn der Preis, den die Menschen für die Unabhängigkeitsbestrebungen zahlen mussten, war hoch.
Im Zuge der Rumänisierungstendenzen der damaligen Machthaber Moldawiens erklärte sich Transnistrien, das bis 1940 zur Ukraine gehört hatte und ab 1944 Bestandteil der Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik mit der Hauptstadt Chisinau war, am 2. September 1990 für unabhängig. Im Dezember des darauf folgenden Jahres stimmte das Gebiet für die Loslösung von Moldawien. Bereits kurz zuvor hatte es Schießereien zwischen der moldawischen Polizei und Mitgliedern einer transnistrischen Nationalgarde gegeben. Im Frühjahr und Sommer 1992 kam es zum Showdown. Bei bewaffneten Auseinandersetzungen vor allem in der Stadt Bender starben mehrere hundert Menschen.
Unter maßgeblicher Mitwirkung der in Tiraspol stationierten russischen 14. Armee unter dem Kommando von General Alexander Lebed konnte im Juli 1992 ein Waffenstillstand ausgehandelt werden. Seitdem wacht eine rund 1.500-Mann starke Friedenstruppe mit je drei Bataillonen aus Moldawien und Transnistrien sowie zwei russischen, die in einer Sicherheitszone auf beiden Seiten entlang des Dnjestr-Flusses stationiert ist, über die Einhaltung des Waffenstillstands. Überdies bemüht sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umVermittlung.
Zwar treffen sich Vertreter beider Seiten seit April 1994 regelmäßig. Und im Mai 1997 wurde in Moskau ein Memorandum über „die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Moldawien und Transnistrien“ unterzeichnet. Doch während Chisinau eine umfangreiche Autonomie vorschwebt, will sich Transnistrien allenfalls auf eine Konföderation einlassen.
Der Weg Transnistriens in Richtung eines unabhängigen Staates scheint unumkehrbar. So stimmte die Bevölkerung bereits am 24. Dezember 1995 mit großer Mehrheit für eine neue Verfassung. Darin ist von Transnistrien als einem „souveränen, unabhängigen und demokratischen Rechtsstaat“ die Rede. Einige Monate zuvor war als Währung der so genannte transnistrische Rubel eingeführt worden. 1998 boykottierte Transnistrien die moldawischen Parlamentswahlen.
„Die starren Fronten sind etwas aufgeweicht. Aber im Kern besteht der ethnische Konflikt nach wie vor fort“, sagt ein Mitarbeiter der OSZE. So seien der Status und der Abzug der 14. russischen Armee immer noch ungeklärt. Das verunsichere sowohl Moldawier als auch Russen. „Bislang ist da keine Lösung in Sicht“, sagt der OSZE-Vertreter. Deshalb heiße die Devise eben: rausschieben.
Nikolaj Babilunga leitet das Forschungslabor für die Geschichte Transnistriens an der staatlichen Universität in Tiraspol. Er hat ein Gedenkbuch für die „Verteidiger Transnistriens“ herausgegeben. 626 Opfer, die bei den Zusammenstößen 1992 ihr Leben ließen, sind hier namentlich verzeichnet, mit Foto und kurzem Lebenslauf. „Damit sich 1992 nicht wiederholt, haben wir auch unsere eigene Armee“, sagt er. „Wir sind nicht gegen einen gemeinsamen Staat mit Moldawien, weigern uns aber, in einem Gefängnis zu leben, wo der moldawische Kapitalismus herrscht. Wir stellen uns einen föderativen Staat vor, nach dem Vorbild der Schweiz“, erklärt Babilunga. Transnistrien habe seine wirtschaftliche Überlebensfähigkeit oft genug unter Beweis gestellt. „Sonst wären wir schon längst verhungert“, sagt der Historiker. Doch die Betriebe – Elektrotechnik, Stahl und Metallurgie –, die bislang großenteils auf den Export nach Russland ausgerichtet waren, wurden von der dortigen Wirtschaftskrise hart getroffen. Sein letztes Gehalt, 120 Millionen transnistrische Rubel (rund 40 Dollar) habe er im April vergangenen Jahres erhalten. „Aber in Chisinau ist es noch schlimmer. Dafür sind bei uns die Mieten sehr billig“, sagt Babilunga.
Im Hof der Universität stehen Studenten in kleinen Grüppchen zusammen. Unterrichtet wird in Transnistrien nach russischen Lehrplänen, auch die Diplome sind in Russland anerkannt. „Mit den Moldawiern wollen wir nichts zu tun haben, die sollen uns in Ruhe lassen“, sagt ein Jurastudent, der wenig Lust zeigt, sich auf ein Gespräch einzulassen. Früher, als es in der Sowjetunion keine Grenzen gab, sei alles besser gewesen: „Da konnten die Verbrecher republikweit verfolgt werden“, erzählt er.
Vor dem Stadtsowjet im Zentrum Tiraspols erhebt sich auf einem Granitsockel eine mehrere Meter hohe Leninstatue. „Dass Lenin hier steht, ist normal. Wir führen keinen Krieg gegen Denkmäler, die sind Teil unserer Geschichte“, sagt Wiktor Burschatzki, Vorsitzender des Tiraspoler Stadtsowjets. Über dem Konferenztisch in seinem Arbeitszimmer hängt eine große Tafel. Unter der Überschrift „die Hauptaufgaben des Tiraspoler Rates der Volksdeputierten“ steht dort: „Wohlstand der Bürger, soziale Gerechtigkeit, Stärkung der Macht des Rates der Volksdeputierten, Gesetzlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte im Geiste des Nationalismus und Patriotismus, Bildung der Bevölkerung.“
Burschatzki ist Mitglied der patriotischen Bewegung, der dominierenden Gruppe im Stadtparlament. Über die Beziehung zu Moldawien hat er eine klare Meinung. „Engere Beziehungen werden sich nicht entwickeln, die Gräben vertiefen sich. Wir können nicht in einem gemeinsamen Staat leben. Die Ereignisse von 1992 werden wir immer unterschiedlich bewerten.“ Die Zukunft Transnistriens sieht Burschatzki in einer slawischen Union mit der Ukraine, Russland und Weißrussland. „Wir hier haben russische Wurzeln und sind mit der russischen Kultur aufgewachsen“, sagt er.
An der amtierenden russischen Regierung lässt er jedoch kein gutes Haar, wohl weil es an wirtschaftlicher Unterstützung mangelt. „Das sind alles Verräter, die wirtschaften alle nur in die eigene Tasche. Aber wir hoffen auf Aufklärung und einen Wechsel dort. Zumindest moralische Unterstützung von einigen Kräften bekommen wir ja bereits.“ Die findet sich fünf Minuten zu Fuß vom Stadtsowjet: Dort unterhalten die Liberaldemokraten des russischen Rechtsaußen Wladimir Schirinowski ein Büro. Auch Russlands Kommunisten sind mit einer Filiale in Tiraspol vertreten.
Einige Querstraßen weiter steht eine kleine Holzbude. Hinter der Scheibe hängen verschiedene Brote mit Preisangaben. Aus der Luke lugt eine alte Frau, in geblümter Kittelschürze, darüber eine dicke Wolljacke. „Wir haben sogar mehrere Sorten Brot, sehen Sie nur“, sagt sie. Sie ist schon ein paar Jahre in Rente, aber die umgerechnet neun Dollar reichten nicht zum Leben. Sechs Tage in der Woche, jeweils zehn Stunden, steht sie in dem kleinen Kiosk und kann so ihre Rente verdoppeln. „Außerdem bekomme ich jeden Tag ein Brot“, sagt sie.
Plötzlich kullern ihr Tränen unter der dicken Brille hervor. „Wir sind in den 40er-Jahren aus Russland hierher gekommen. Seit mein Mann tot ist, habe ich niemanden. Oft habe ich solche Sehnsucht nach Russland. Aber dort habe ich keine Heimat mehr.“
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