: Sex in Schwarzweiß
Mit Boian Ivanovs „Traurige Gesichter“ löst sich das bulgarische Theater von parabelhafter Diktaturaufbereitung. Leider landet es bei trivialer Befindlichkeit ■ Von Hartmut Krug
Drei Frauen und ein Ziel: der Mann. Drei Frauen als drei Klischees für eine Versuchsanordnung. Etwa 50-jährig und mütterlich die älteste, leidenschaftlich die Frau um die 30, unsicher wie sehnsuchtsvoll suchend die 20-Jährige. Der Mann hat kein Alter und keine Eigenschaften, denn er dient dem bulgarischen Autor Boian Ivanov nur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Frauen. Der gerade aus dem Gefängnis Entlassene ist ein Langweiler, der sich von Anfang an machohaft inszeniert und eigentlich nur für sich selbst und seinen Körper interessiert. Weshalb er vor allem auf Sex konzentriert ist und dieses Bedürfnis zielgerichtet bis zunehmend brutal verfolgt.
Der junge bulgarische Autor Boian Ivanov beschreibt vier Figuren, die alle in ihren eigenen Wünschen und Träumen eingesperrt sind. Ivanov, geboren 1971, hat in Sofia Theaterwissenschaft studiert und in seiner Geburtsstadt Pleven als Dramaturg und Regisseur gearbeitet. Derzeit absolviert er an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ein Aufbaustudium für Theaterregie. Seit 1993 publiziert Ivanov seine Stücke. In Bulgarien errangen sie oft, so auch „Traurige Gesichter“ aus dem Jahr 1997, Preise bei Wettbewerben für neue Dramatik. Für westliche Theatererfahrungen wirkt an „Traurige Gesichter“ allerdings wenig neu: Es ist eine schmerzliche Befindlichkeitsstudie, die zwischen offensiver Plumpheit und analytischer Trivialität schwankt.
Die Freien Kammerspiele in Magdeburg pflegen seit langem eine „Osterweiterung“ genannte Programmlinie, die laut Intendant Wolf Bunge „eigentlich eine Westerweiterung osteuropäischer Dramatik“ ist. Seit 1997 gibt es einen regen Austausch mit bulgarischen Theatern und eine Auseinandersetzung mit bulgarischer Dramatik. Im März wird die junge Regisseurin Lilia Abadjieva, die bei den Berliner Festwochen mit ihrer „Werther“-Version aus Sofia auffiel, an den Freien Kammerspielen den „Hamlet“ inszenieren. Die Magdeburger Bühne hat sogar Konstantin Pavlos „Rebellion am Sonntag“ in Plovdiv und Sofia (in deutscher Sprache) uraufgeführt und dann in den eigenen Spielplan übernommen. Mit Boian Ivanovs „Traurige Gesichter“ wird erstmals ein Stück vorgestellt, das sich nicht mehr unmittelbar (das heißt für bulgarische Dramatik: in parabelhafter Form) mit den deformierenden Auswirkungen eines diktatorischen kommunistischen Systems auf die Menschen beschäftigt.
Liest man diesen Text mit seinem bezeichnenden Untertitel „Quartett in Schwarzweiß“, so wirkt er zunächst seltsam spannungslos. Nur schwer vermag man das Interesse der Magdeburger Dramaturgie an diesen aus schlichtester Männerperspektive gezeigten „Traurigen Gesichtern“ zu teilen. Allerdings ist dem Stück ein Bewegungsrhythmus eingeschrieben, ein Tanz der Figuren aufeinander zu und voneinander weg, der durch seine souveräne Schlichtheit den Text durchlässig macht für generellere Bewegungsstudien von Annäherung und Abstoßung.
Genau so hat Matthias Messmer den Text auch inszeniert. Strukturiert und untermalt von der dunkel-atmosphärischen und rhythmischen Musik von Alex Scheiber und Erik Thuro, werden die Begegnungen durch pantomimisch-tänzerische Balz- und Projektionsrituale (deutlich nach dem choreographischen Vorbild von Sasha Waltz) zugleich unterbrochen wie verbunden. Dagmar Frommes Bühne und Kostüme sind vor allem schwarz. Vorn eine leere Fläche, hinten drei dunkle Kammern, durch deren Wände der Mann von Frau zu Frau wandern kann.
Dieser Zwitter zwischen fertigem Bedeutungsspiel und offenem Körpertheater aber funktioniert nur durch die konzentriert-entspannten Schauspieler. Vor allem Franziska Kleinert macht das Spiel nicht nur atmosphärisch spannend, sie gibt der Figur der älteren Frau eine leichte Komik, eine zarte, traurige Individualität mit in diese theatralische Versuchsanordnung. Und Ulrike Haase als die jüngste Frau vermag deren tastender Zerrissenheit spannenden schauspielerischen Ausdruck zu geben. Den Freien Kammerspielen Magdeburgs gelang diesmal keine Stück-Entdeckung, aber immerhin eine Stück-Rettung.
„Traurige Gesichter“ von Boian Ivanov. Regie: Matthias Messmer. Freie Kammerspiele Magdeburg. Nächste Vorstellungen: 2., 3. März 2000
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