: Popcornwaschmaschinen
René Pollesch bastelt sich mit postdramatischem Theater eine erfolgreiche zweite Autorengeburt. „Bambi Sickafossee“ am Jungen Theater Göttingen ■ Von Jürgen Berger
Dass in Göttingen die Dinge tatsächlich beim Namen genannt werden, überrascht. Ein Sexshop heißt dort noch „Sexualwarenhandlung“ und nennt mit „Sex“, „Ware“ und „Handlung“ unmissverständlich, um was es drinnen geht. Als bereits über 18-Jähriger könnte man problemlos eintreten, während sich ein paar Ecken weiter vor dem Jungen Theater plötzlich die Frage stellt, ob man hier überhaupt noch reinkommt. Gott sei Dank ist Jugendlichkeit dehnbar wie die Produkte in der Latexabteilung der Sexualwarenhandlung, sodass auch René Pollesch angesichts der Uraufführung seines neuesten Stückes „Bambi Sickafossee“ glücklich „Ich bin drin!“ gestrahlt haben dürfte.
In drei Jahren wird er vierzig und erlebt im Moment die Gnade der zweiten Autorengeburt. Eigentlich hätte er bereits Anfang der Neunzigerjahre durchstarten müssen. Nach dem Studium der angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und ersten Erfolgen am Frankfurter Theater am Turm sah alles nach der Landung eines Jungautors im Stadttheater mit noch eher herkömmlichen Stücken aus. Es wurde allerdings wieder stiller um ihn, sodass er in den letzten Jahren an postdramatischen Theatertexten und einem Zweitstart basteln konnte, der im Moment vehement über die Bühne geht. Nach „Bambi Sickafossee“ wird Anfang Mai in Bremen sein „Harakiri einer Bauchrednertagung“ zur Uraufführung gebracht. Ab nächster Spielzeit, mit Tom Strombergs Start am Hamburger Schauspielhaus, ist Pollesch Hausautor an einer der ersten deutschen Schauspielbühnen und wird wie in Göttingen hyperschnelle Texte produzieren, in denen er vor allem eines zu vermeiden sucht: den Eindruck, es handele sich um Stücke, in denen Figuren psychologisch motiviert gegen- oder miteinander agieren.
Seine Figuren, ob sie nun Bambi Sickafossee wie die Titelheldin der Göttinger Uraufführung, Frank Olyphant oder Heidi Hoh heißen, sind pure Textträger und spucken Wörter, als hätten sie sich mit Datenmüll vollgefressen und als wollten sie den Wort- und Warenmüll so schnell wie möglich wieder loswerden. In der Regel inszeniert Pollesch selbst und sagt, er könne sich seine Texte auch nur in Eigenregie umgesetzt vorstellen, da seine Schreibfantasie erst mit Blick auf eine mögliche Bühnenumsetzung so richtig in Wallung gerate.
„Bambi Sickafossee“ allerdings schrieb er für Lukas Langhoff. Der ist in Göttingen auch zur Regietat geschritten, hat aber anders als Pollesch ein revueartiges Bildertheater auf die Bühne gebracht. Um was es dabei geht? Bambi Sickafossee und die anderen delirierenden Warenjunkies leben wie in einer Wohngemeinschaft, als sehnten sie sich in die Flower-Power-Welt der Sechzigerjahre zurück. Da die Welt aber alles andere als heil ist, brechen sie immer wieder in unmotivierte Schreikrämpfe aus, brüllen ihre Enttäuschungen – „Das Zuhause ist kein freundlicher Ort“ – ins Publikum und leben in einem Smarthouse, das ihnen Denken und Fühlen abnimmt. Da es geschlechtsspezifisch programmiert ist, macht es aus Bambi Sickafossee zwangsläufig ein „fucking housewife“, wobei sich René Pollesch gerade in solchen Passagen unter der Hand als technologiekritischer Aufklärer versucht. Die Technologisierung sogar intimer Lebenswelten produziert Verhaltenszombies, und genau die führt er als Versatzstücke einer Hardcore-Soap vor.
Lukas Langhoff hat Polleschs Antistück-Dramaturgie grundsätzlich beibehalten. Die vier Göttinger Trash-Darsteller sprechen zum Publikum, werden von einem hinzu erfundenen Conférencier wie Teile der Bühnendekoration erklärt und dürfen Passagen als Textmaschinen in Fastforward, Rewind und Slowmotion-Passagen vorführen. Die Bühne ist mit Waschmaschinen gepflastert, auf dass sich die vier marktwirtschaftlichen Trashkids auf ihnen wie aquamarine Wesen treiben lassen, während vom Band „Break on Through“ der Doors reinknallt und der Durchbruch in kokaingetränkte Universen jenseits der Warenwelt geprobt wird.
In Luzern, wo Pollesch Barbara Mundels Reanimation eines scheintoten Stadttheaters gerade mit dem mehrteiligen „java in a box“ gewürzt hat, war die Kokainspur in Form von Mercedes-Sternen auf dem Bühnenboden ausgelegt. Ähnliches ist in Göttingen nicht zu sehen, dafür spuckt eine der Waschmaschinen Popcorn und geben die vier Darsteller derart hübsch Laurie Andersons „Superman“, dass sich das Junge Theater im Falle dieser Inszenierung vorerst keine Publikumssorgen zu machen braucht.
Der Name täuscht übrigens. Das Junge Theater, die Alternative zum Göttinger Deutschen Theater, ist kein Jugendtheater und versteht sich, spätesten seit Werner Feig die Theaterleitung übernommen hat, entschieden als Off-Variante zur städtischen Bühne. Übernommen hat er das Junge Theater Mitte der letzten Spielzeit und versucht seit dieser Saison, mit dem ersten eigenen Spielplan zu überzeugen. „Bambi Sickafossee“ ist in diesem Zusammenhang nicht die Ausnahme eines ansonsten herkömmlichen Programms. Feig bietet eine Mischung aus Projekten wie einer „Soap Total – Herzen ohne Rast“ und Stückinszenierungen. In diesen Tagen etwa bringt Sebastian Hartmann Jean Genets „Die Zofen“ auf die Bühne und zeigt einmal mehr, dass sich inzwischen die Berliner (einstige) Off-Szene in Göttingen ein Stelldichein gibt.
Da er selbst aus dieser Szene stamme, sagt Feig, würden die entsprechenden Regisseure bei ihm für geringere Gagen als an anderen Theatern arbeiten. Notwendig ist das insofern, als sein Etat von 2,2 Millionen Mark nicht üppig ist, die Fixkosten bei über einer Million Mark liegen und er zehn bis zwölf Premieren pro Spielzeit herausbringen will. „Ambitioniert“ sagt man in solchen Fällen, wobei sein Anfang auch insofern pikant ist, als zur gleichen Zeit das Deutsche Theater mit Mark Zurmühle als Intendant neu startete und der zu Beginn der Saison gleich mit zwei deutschen Erstaufführungen von Stücken aus der englischen Blut-und-Sperma-Klasse aufwartete. Seither werden die Göttinger zwar nicht immer, aber immer öfter mit Beschreibungen von Vorgängen unterhalb der Gürtellinie konfrontiert, was das überwiegend studentische Publikum im Jungen Theater in der Regel besser verkraftet als das Abopublikum des Deutschen Theaters. Dass in Polleschs „Bambi Sickafossee“ schon mal das Wort „Ficksau“ fällt, hat bis jetzt auf jeden Fall keinen gestört.
Währenddessen schreibt der Autor weiter. In einer Auftragsarbeit für das Stuttgarter Staatsschauspiel etwa stellt er sein intelligentes Smarthouse, das die Gemeinde bereits aus „Bambi Sickafossee“ kennt, ins Zentrum. In der Schwabenmetropole wohnt René Pollesch seit einiger Zeit auch, feilt weiter am postdramatischen Theater und versucht die herkömmliche Stückform zu sprengen. Das „Smarthouse“ solle eine Anti-Verbrauchermesse und als Fortsetzungsgeschichte auf drei Abende verteilt werden. Es sei allerdings nicht so einfach, die Theater von solchen Formen zu überzeugen, sagt er. Aus Stuttgart ist zu hören, dass noch nicht entschieden sei, ob „Smarthouse“ noch Ende dieser Spielzeit oder doch erst nächste auf die Bühne kommt.
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