: Von unten geliebt – von oben gehasst
Im Duell der Kinowelt-Vereine Union Berlin und FC Sachsen Leipzig bekämpften die Zuschauer den Frost mit wärmenden Erinnerungen an bessere Zeiten. Die ehemaligen Underdogs verbindet immer noch Freundschaft
Es soll ja immer noch Leute geben, die aus ihren westdeutschen Käffern nach Berlin gezogen sind und sich im Osten glauben. Sie wohnen in renovierten Altbauwohnungen in Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Mitte und freuen sich beim Cappuccino über ihren Lebensmut: Sie glauben zu wissen, wie er ist, der Osten.
Am Samstag hätten sie etwas lernen können. An der Wuhlheide spielte der 1. FC Union Berlin. Zu Gast war Sachsen Leipzig. Ein echter Leckerbissen. Ein Duell mit Geschichte. Dass die Regionalliga Nordost so etwas wie eine Nostalgiestaffel, eine Art Wiedergänger der alten DDR-Oberliga ist, hat sich ja wohl herumgesprochen.
Fast alle alten Ostvereine mit Bedeutung spielen hier: Dynamo Dresden, Carl Zeiss Jena, der 1. FC Magdeburg, der VfB Leipzig, früher Lokomotive, und der Ex-Dauermeister BFC Dynamo Berlin, der nun gegen den Abstieg kämpft und nächstes Jahr wohl wieder in einer Oberliga spielen wird.
Der Niedergang des verhassten „Mielke-Clubs“ Dynamo erfüllt die Unioner mit Genugtuung, um so mehr, als sie selbst Höheres anstreben können. In diesem Jahr soll es endlich mit dem Aufstieg in die 2. Bundesliga klappen, dafür sollte der Dritte, Sachsen Leipzig, geschlagen werden. Die Sachsen firmierten bis zum Mauerfall als BSG Chemie Leipzig. Legendär, jedenfalls im Osten der Republik, sind die Entscheidungsspiele um den Oberligaabstieg in der Saison 83/84.
Beide Klubs verbindet eine alte Freundschaft. In der Oberliga standen sie jeweils im Schatten der großen Ortsrivalen: Chemie Leipzig hatte das Nachsehen hinter Lokomotive Leipzig, und Union versuchte sich gegen den Verein der Staatssicherheit, Dynamo, zu behaupten.
Noch heute pflegen Chemie und Union ihre Freundschaft. Vor dem Spiel war eine limitierte Auflage von gemeinsamen Fanschals zu kaufen. Auf den 100 rot-weiß-grünen Exemplaren steht der Schriftzug „Von unten geliebt – von oben gehasst“. In einer knappen Stunde waren alle Schals weg. Im zugigen Stadion „An der Alten Försterei“ schien es, als ob mit dem pathetischen Schriftzug eher Wettergott Petrus gemeint sei. Es war lausig kalt, es hagelte und schneite sogar. Man konnte sich erinnert fühlen an das Erlebnis einer Partie Motor Wladiwostok gegen Petrograd Novosibirsk.
Union war zwar fast die gesamte Spielzeit überlegen, erzielte sogar früh ein Abseitstor, vergab dann aber die wenigen echten Chancen. Als ein Großteil der Zuschauer schon ganz steif gefroren war – Union-Trainer Georgi Wassilew flunkerte später, „die hätten sich nicht gelangweilt“ – geschah doch noch etwas: In der 90. Minute erzielte Steffen Menze das 1:0. Riesenjubel. Als sich dann alle gerade auf einen Arbeitssieg einigen wollten, verdarb ihnen Schiemann die Freude, indem er den 1:1-Ausgleich köpfte. Riesenjubel auf der anderen Seite.
Union-Präsident Heiner Bertram gab ehrlich zu, dass dieses Ergebnis „wie eine Niederlage“ sei, auch der anvisierte Zuschauerrekord sei klar verpasst worden. „Nur“ 6.300 Menschen hatten sich nach „Sibirien“ gewagt.
Union wird wohl mit dem Meister der Regionalliga Nord um den Aufstieg in die zweite Liga spielen, die letzten fünf entsprechenden Vergleiche gewann der Nordosten. Darum präsentierte Union letzte Woche schon seinen Etat für die zweite Liga, der mit 13 Millionen recht beachtlich ist. Der von Sachsen Leipzig ist ähnlich hoch, die beiden Krösusse des Ostens werden inzwischen von oben wirklich nicht mehr gehasst, Kinowelt sei Dank.
Denn beide Vereine gehören genau wie die anderen Ostvereine, Dynamo Dresden, 1. FC Magdeburg und Carl Zeiss Jena zum Portfolio des Filmerechtehändlers Michael Kölmel, der angeschlagene Traditionsvereine rettet, sich deren Vermarktungsrechte sichert und auf den Aufstieg seiner Anlageklubs hofft.
Union ist jetzt schon die potentielle Nummer zwei in der Hauptstadt. Zweitligist Tennis Borussia fürchtet noch mehr als Hertha BSC die Ostkonkurrenz, die schon zu DDR-Zeiten oft mehr Zuschauer hatte als Dynamo. Union ist neben den Eishockey-Eisbären sicherlich der Träger Ostberliner Identität. Also, Cappuccino-Tasse aus der Hand, den Pelz angelegt und auf nach Köpenick. MATHIAS STUHR
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