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Lemminge gehen an die Börse

Internet-Firmen zwischen Boom und Krise: Täglich fährt ein neuer Turnschuh-Betrieb riesige Steigerungen seines Aktienkurses ein. Doch die meisten Firmen machen Verluste. Immer mehr Ökonomen schätzen inzwischen, dass der Crash vor der Tür steht

von HANNES KOCH

Manchmal bleibt Heiner Schaumann nichts, als die Achseln zu zucken. Dann weiß der Mann von Intershop nicht weiter. Gewiss: Das Geschäft mit der Software für den elektronischen Handel zwischen Unternehmen gedeiht prächtig. Von 1997 auf 1998 stieg der Umsatz um 255 Prozent auf 35 Millionen Mark. Und der Aktienkurs hat sich seit dem vergangenen September mehr als versechsfacht. Intershop gehört damit zu den Stars der neuen Internet-Ökonomie, deren Erfolg alles Bekannte zu sprengen scheint.

Doch nicht alles ist Gold: Der Gewinn lässt zu wünschen übrig. Auch 1999 machte die Firma wieder Verlust. „Wir sind nach Asien expandiert“, erklärt Firmensprecher Schaumann. Nun will der Betrieb dieses Jahr die Nullgrenze überspringen. Wann Intershop eine Industriekonzernen vergleichbare Rendite abwerfen wird, steht aber in den Sternen. „Nicht vor 2003“, so Schaumann.

Intershop aus Jena ist kein Einzelfall. Nach Gewinn muss man die meisten Internet-Firmen gar nicht erst fragen. Damit gerät eine wesentliche Bewertungsgröße, die Ökonomie und Börse bisher einigermaßen verlässlich machte, außer Kraft.

Beispiel Brokat: Produziert Software für das Internet-Banking, acht Millionen Mark Verlust 1999, Kurs seit September 1999 verdreifacht. Beispiel Fantastic Corporation: stellt Software für Datenübertragung her, 80 Millionen Verlust 1999, Kurs seit September verachtfacht.

Wer in diesen Wochen mit einer Internet-, Software- oder Telekom-Firma neu an die Börse geht, den schmeißen die AnlegerInnen mit Geld zu. Der Aktienboom gehorcht der Formel „Geld mal Hoffnung gleich mehr Geld“. Nur – ist diese Hoffnung gerechtfertigt? Hat der Aktienhype einen realen ökonomischen Sinn?

Der Bremer Ökonom Jörg Huffschmid meint: „Ein reines Spekulationsphänomen.“ Die angebliche „neue Ökonomie“ produziere lediglich eine gefährliche Kursblase, die jederzeit platzen könne. Auch Birger Priddat, Wirtschaftsdekan an der privaten Universität Witten-Herdecke, teilt die Skepsis: Dass die neuen Unternehmen irgendwann Gewinne einfahren könnten, die die Kurssteigerungen rechtfertigen, „erwartet niemand“. Den Grund für das Hochschießen der Werte am Neuen Markt sieht Priddat nicht in ökonomischen „Fundamentaldaten“, sondern in der „wechselseiten Selbstbestätigung“ der AnlegerInnen. „Der Lemming-Effekt“, so Priddat.

Die beiden stehen mit ihrer Meinung nicht allein: Immer mehr Ökonomen und auch das konservative Handelsblatt sehen den Crash kommen.

Die hohen Kurse seien zumindest teilweise eine Spiegelung realer Chancen, sagt dagegen Michael Hutter, ebenfalls Ökonom an der Uni Witten. Viele der neuen Firmen hätten die Möglichkeit, mit wenig Kapital und Beschäftigten bald hohe Gewinne einzufahren, so Hutter.

Ein Beispiel: Die Internet-Bank Consors aus Nürnberg braucht nur einen Bruchteil der Beschäftigten normaler Banken, um gigantische Anlagegelder zu bewegen. Auf die Filialen an der Ecke können die Online-Finanziers ganz verzichten. Läuft die Vertriebs-Software einmal, erreicht sie potenziell die ganze Welt: Im Verhältnis zum Profit fallen die Kosten deshalb gering aus. Die Hoffnung auf hohe Gewinne mit Software-, Internet- und E-Commerce-Aktien gründet sich immer auf die vermeintlich höhere Produktivität dieser Firmen – und damit auch auf die radikale Verringerung der Beschäftigung.

Die Frage ist allerdings, ob die neuen Firmen so lange durchhalten, bis sie Gewinn machen. Brokat etwa ist erst 1998 an die Börse gegangen, doch schon dieses Jahr braucht man wieder frisches Kapital. Bald könnte für viele der hochgepushten Firmen die Stunde der Wahrheit kommen. Die AnlegerInnen werden wissen wollen, ob die hochfliegenden Erwartungen eingetroffen sind oder ob man den Durchbruch zum Gewinn nur immer weiter in die Zukunft verschiebt.

Dieser Punkt kann ganz plötzlich kommen. Denn die „Kommunikation“ über die Firmen und ihre Produkte spiele heute eine ungleich größere Rolle für ihre Bewertung als früher, meint Ökonom Priddat. Weil die Produkte „uneindeutiger“ seien – der tatsächliche Gebrauchswert einer neuen Software lasse sich nur schwer abschätzen – falle auch der Bewertungsspielraum größer aus. Das kann zu größeren Schwankungen der Aktien führen – und damit zum schnellen Einbruch des Internet-Booms.

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