: Trotz Wahl kein Wandel
Morgen wird in Chile ein Sozialist zum Präsidenten ernannt – zum ersten Mal seit Allende. Doch ist eine Rückkehr der Geschichte nicht zu erwarten. Die Konterrevolution ist längst perfekt
von URS MÜLLER-PLANTENBERG
Der Symbolwert ist scheinbar kaum zu übertreffen: Morgen wird der chilenische Staatspräsident Eduardo Frei genau das tun, was knapp dreißig Jahre zuvor – am 4. November 1970 – sein Vater gleichen Namens ebenfalls getan hat: Frei wird Ricardo Lagos die Schärpe anlegen und damit ein Mitglied der Sozialistischen Partei Chiles zu seinem Präsidentschaftsnachfolger machen – wie sein Vater Salvador Allende. Alle Welt wird sich daran erinnern, wie der freundliche Arzt Salvador Allende damals den chilenischen, demokratischen Weg zum Sozialismus eröffnen wollte, und wie dies durch den brutalen Putsch der Militärs unter General Augusto Pinochet 1973 beendet wurde. Die symbolische Parallele wird noch dadurch verstärkt, dass Pinochet aus seiner luxuriösen Haft in London nach Chile zurückgekehrt ist und sich möglicherweise sogar erdreisten wird, als Senator auf Lebenszeit an dem Staatsakt mitzuwirken. Wird sich die Geschichte also jetzt wiederholen, wie es der greise Exdiktator befürchtet und wie es sich vielleicht manche ehemaligen Mitglieder der weltweiten Solidaritätsbewegung für Chile noch wünschen mögen?
Allende hatte mit Nixon einen Gegner, der selbst zu infamsten Mitteln griff
Nichts ist falscher als diese Annahme. Die einzige Parallele ist die Mitgliedschaft von Salvador Allende und Ricardo Lagos in der gleichen Sozialistischen Partei. Sonst aber kann von einer „Rückkehr“ nicht geredet werden. So ist Lagos im zweiten Wahlgang von einer – wenn auch sehr knappen – Mehrheit der Wahlbevölkerung gewählt worden und kann sich auch auf eine Mehrheitskoalition stützen kann. Damit hat Lagos zweifellos eine sehr viel stärkere Legitimation, als sie Allende je hatte, der sich nur mit relativer Mehrheit durchsetzte und auch im Kongress nur eine Minderheit hinter sich hatte. Zudem hatte Allende mit US-Präsident Nixon einen machtvollen Gegner, der selbst mit infamsten Mitteln den Sozialismus in Chile und Lateinamerika verhindern wollte. Dagegen betrachten sich Ricardo Lagos und US-Präsident Bill Clinton heute wohl eher als Brüder im Geiste. Die Chancen für eine friedliche und erfolgreiche Präsidentschaft von Lagos sind also wesentlich günstiger, als sie für Allende waren. Aber was will und kann er damit erreichen?
Die absolute Herrschaft des Marktes wird auch von den Sozialisten akzeptiert
Einen Systemwechsel oder auch nur Systemwandel kann es schon deshalb nicht geben, weil die Christdemokratischen als größte Partei der Regierungskoalition das verhindern würden. Das kapitalistische System in Chile beruht inzwischen auf den „Modernisierungen“ der neoliberalen so genannten Chicago Boys. Sie haben mit Unterstützung der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 die Gesellschaft auf den individuellen Egoismus als einzigen Maßstab verpflichtet. Und das Ergebnis dieser (Konter-)Revolution, die absolute Herrschaft des Marktes, haben die Parteien der bisherigen und zukünftigen Regierungskoalition längst akzeptiert. Das durchschnittlich sechs Prozent hohe Wirtschaftswachstum und der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit sollten und sollen nicht durch „populistische“ Abweichungen von der reinen Lehre der Marktwirtschaft gefährdet werden. Daran hat auch eine spürbare Rezession im Jahr 1999 nichts geändert.
Die politische Mobilisierung, die in den Achtzigerjahren einen großen Teil der Bevölkerung erfasst hatte und maßgeblich zum Ende der Diktatur beigetragen hat, ist einer politischen Friedhofsruhe gewichen. Dies war auch von der jetzigen Koalition so gewollt, weil sie nichts so fürchtete wie politischen Streit, aus dem Putsch und Diktatur hervorgehen könnten. Die von Pinochet durchgesetzte Verfassung von 1980 zementiert noch diesen Stillstand. Senatoren, die nicht gewählt, sondern von den Streitkräften, der Justiz und anderen Institutionen designiert werden, stellen die Mehrheitsverhältnisse im Senat auf den Kopf. Das Wahlgesetz begünstigt extrem die Minderheit und lässt kaum eine Veränderung der Zusammensetzung des Kongresses zu. Und schließlich werden der (rechten) Minderheit in weiten Bereichen Vetorechte eingeräumt. Dies alles bewirkt einen Immobilismus des politischen Systems, da der Konsens auf der Basis des Status quo immer neu erzwungen wird. Da die Politikerinnen und Politiker kaum etwas – außer im breiten Konsens – entscheiden können, erscheint ihre Tätigkeit als bloße Verteidigung ihrer Pfründen. Bei den Parlamentswahlen von 1997 wurde fast jeder sechste Stimmzettel ungültig gemacht, unter demokratischen Bedingungen ein einsamer Weltrekord. Dabei hatte sich eine Million vor allem junger Leute erst gar nicht in die Wahlregister einschreiben lassen.
Alle oppositionellen Presseorgane mussten in den letzten Jahren schließen
Überhaupt sind die gesellschaftlichen Kräfte der Beharrung extrem stark. Während in den Spätzeiten der Diktatur noch eine große Vielfalt auch der oppositionellen Presse existierte, haben inzwischen alle Organe der Linken und der Christdemokratie schließen müssen. Zwei Großkonzerne beherrschen den Markt; an erster Stelle steht die Kette der Zeitung El Mercurio, des Zentralorgans des Großbürgertums. Ähnlich sieht es im Fernsehen aus, dessen Kanäle sich im Wettlauf um die Einschaltquoten auf das niedrigstmögliche Niveau begeben.
Die Kirche, die zu Zeiten der Diktatur mit ihrem Einsatz für Menschenrechte für viele eine Institution der Hoffnung war, hat seither alle Anstrengungen darauf gerichtet, katholisch-konservative Maßstäbe durchzusetzen. Ein Scheidungsgesetz ist bisher ebenso verhindert worden wie eine menschenwürdige Abtreibungsregelung. Und die Gewerkschaften, die in der Zeit der großen Proteste von 1983 in der Lage waren, die Diktatur wirklich herauszufordern, sind heute ein Schatten ihrer selbst.
Nach dem Putsch von 1973 ist einmal gesagt worden, die chilenische Bourgeoisie habe von Lenin viel über die Eroberung der Macht gelernt. Heute ließe sich hinzufügen, dass sie noch erfolgreicher Gramsci beherzigt hat, dass es nämlich darauf ankommt, die Hegemonie in allen Sphären der Zivilgesellschaft an sich zu reißen. Die Eroberung eines Teils der politischen Macht – das heißt: des Präsidentenamtes – durch den Gegner kann hingenommen werden, wenn diese Macht nichts Wesentliches auszurichten vermag.
Doch trotz der mächtigen Beharrungskräfte knüpfen die Ärmeren große Hoffnungen an den neuen sozialistischen Präsidenten. Dabei geht es vor allem um die Schließung der Gerechtigkeitslücke. Dies haben allerdings auch schon die christdemokratischen Vorgänger von Lagos ohne Erfolg versucht. Mit neoliberaler Marktpolitik zu Gunsten von Wachstum um jeden Preis lässt sich Umverteilung eben nicht erreichen; und ob Lagos die Kraft haben wird, einen anderen Weg einzuschlagen, ist zweifelhaft. Viele Chilenen sind deshalb schon froh, dass nicht der Gegenkandidat Joaquín Lavín, ein Parteigänger Pinochets, zum Präsidenten gewählt wurde. Denn das Mitglied des Opus Dei hätte die konservativen Verhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur noch weiter befestigt. Das Wahlergebnis war knapp genug.
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