: Wer rotsieht
Die jüngste Debatte über die Menschenzüchtung: Keiner weiß, wovon er redet, aber alle reden mit. Nur mit den Gentechnikern redet niemandvon HENNING SCHLUSS
Ein Verdienst kommt Peter Sloterdijk trotz allem zu: Er hat zu guter Letzt eine Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik provoziert. Ethische Überlegungen zu diesem brisanten Thema hatten sich trotz des rasanten Fortschreitens der Technik bislang rar gemacht. Nun sprachen plötzlich alle über Gentechnik, aber, um ein kürzlich bekannt gewordenes Diktum Sloterdijks umzuwandeln, niemand mit den Gentechnikern. In diesem Falle ist das ausbleibende Gespräch jedoch nicht nur eine Frage der Diskursethik. Haben die hochmögenden Philosophen überhaupt eine Ahnung, wovon sie reden?
Molekularbiologen sträuben sich bei der Lektüre der philosophischen Auslassungen zuweilen die Haare. Da gehen alle Dinge durcheinander, die unterschieden gehören. Gentechnik ist nicht immer gleich „Eingriff in den Menschen“. Die sinnvolle Unterscheidung in grüne, bezogen auf Pflanzen und Landwirtschaft, graue, bezogen auf Bakterien und rote Gentechnik, die auf den Menschen orientiert ist, scheint manchen Autoren unbekannt zu sein. Eine andere fundamentale Unterscheidung, die Molekularbiologen vornehmen, wird in der philosophischen Debatte ebenso ignoriert: Gentechnik kann auf Organismen in vier Weisen angewendet werden.
Zunächst diagnostisch: Dies ist heute schon weitgehend der Fall. Die Diagnose ist keineswegs frei von ethischen und juristischen Herausforderungen: Haben Arbeitgeber das Recht, von Arbeitnehmern einen Gencheck zu verlangen, um Dispositionen zu bestimmten Krankheiten festzustellen? Gleiches gilt für Versicherungen. Die Konsequenzen im Bereich der pränatalen Diagnostik liegen ebenso auf der Hand. Vierzig Prozent der Mütter würden ihr Kind abtreiben, wenn sie erführen, dass ihr Fötus ein Gen hat, welches die Wahrscheinlichkeit des Übergewichts erhöht, ergab eine Untersuchung in der USA.
Davon sind Eingriffe zu unterscheiden, die sich auf den Menschen beziehen und mit gentechnisch veränderten Produkten hergestellt werden: die so genannte Substitutionstherapie. Das klassische Beispiel ist das Insulin, welches entweder gentechnisch oder konventionell aus Schweinen gewonnen werden kann.
Eine dritte Stufe ist die somatische Gentherapie. In ihr werden menschliche Zellen verändert. Diese Veränderung bezieht sich jedoch immer auf spezifizierte Zellen. Sie werden nicht vererbt und müssen nach ihrem Absterben erneut injiziert werden. Die letzte Stufe ist die Keimbahntherapie, von der inzwischen alle zu sprechen scheinen, wenn sie das Wort Gentechnik in den Mund nehmen. Erst auf dieser Stufe werden Veränderungen des Erbguts vorgenommen. Hier ist zu diskutieren, ob wir eine gentechnische Veränderung des Menschengeschlechts wollen oder nicht und wo die Grenzen zwischen Heilung von Krankheiten und positiver Eugenik liegen.
Am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) in München haben Biochemiker gemeinsam mit Medizinern und Theologen ein so genanntes Eskalationsmodell zur ethischen Bewertung des gentechnischen Eingriffs am Menschen ausgearbeitet, mit dem sie tatsächliche oder denkbare Anwendungen dieser Technik auf einer siebenstufigen Skala eingeordnet haben. Die Schwierigkeit der ethischen Argumentationen besteht nicht nur in der Komplexität der Problemlage, sondern liegt vor allem im Signum der Moderne, dem Fehlen von allgemein verbindlichen Letztbegründungen.
Weil die Verantwortung für den gentechnischen Eingriff letztlich bei den Ärzten liegt, orientierten sich die Autoren am Berufsethos der Medizin. Entlang dieser Grundorientierung formulieren sie vier Kriterien, die sie für konsensfähig halten. Erstens das ärztliche Berufsethos; dann die Menschenwürde, schließlich die Krankheit und zuletzt Transparenz und Öffentlichkeit der Wissenschaft.
Überraschenderweise kommen die Autoren, die keineswegs als Skeptiker der Gentechnik gelten, bei der ethischen Beurteilung der sieben Eskalationsstufen zu dem Ergebnis, dass lediglich die erste Stufe, die Substitutionstherapie, bislang ethisch zu vertreten sei. Schon die somatischen Gentherapien sind zumindest so lange ethisch nicht zulässig, wie es nicht auszuschließen ist, dass auch Keimzellen von der Gentherapie betroffen sein könnten. Dies käme der Keimbahntherapie gleich. Ethisch zu verwerfen ist die Keimbahntherapie hauptsächlich, weil sie noch der verbrauchenden Embryonenforschung bedarf. Deshalb ist sie auch in Deutschland gesetzlich verboten. Interessanter ist aber das zweite Argument: Da eine Keimbahntherapie künftige Generationen zum Objekt haben würde, ein Arzt aber nur ein bestimmtes Individuum zu behandeln hat, bedeutet sie eine Überschreitung des ärztlichen Mandats.
Es bedürfte also eines neuen Berufes, der die Anwendung verantworten könnte. Wäre dies der Menschenzähmer oder Menschengärtner im Sloterdijkschen Sinne?
Auch ein solches Verfahren muss kritisch hinterfragt werden. Ärztliches Handeln bezieht sich faktisch nicht mehr nur auf Krankheit. Die kosmetische Medizin unternimmt erhebliche Eingriffe nach anderen Kriterien. Die gentechnische Erzeugung von blauen Augen ist prinzipiell nichts anderes als das, was die kosmetische Medizin heute schon tut. Noch problematischer ist aber die Nichtübertragbarkeit auf andere Bereiche der Gentechnik. Dieses Evaluationsschema ist für die Anwendung auf die grüne Gentechnik nicht geeignet, weil es hier keine vergleichbare Grundlage der Bewertung gibt.
Wenn die Risiken des Verfahrens in der ethischen Bewertung nicht vorkommen – und das vertreten die Autoren explizit, denn die Gentechnik sei eine sichere Technik –, gibt es fast kein ethisches Argument gegen den Einsatz der Gentechnik im landwirtschaftlichen Bereich, denn so etwas wie „Würde der Pflanze“ gibt es nicht. Es gibt auch kein Standesethos des Bauern, wie es eines der Ärzte, formuliert im Eid des Hippokrates, gibt.
Begriffe wie „Würde der Schöpfung“ sind anscheinend nicht allgemein verbindlich zu machen und haben auch im Konfliktfall einen geringeren Wert als die Menschenwürde.
Daher ist die Ergänzung der ethischen Bewertung um das Kriterium der Risikoabschätzung, wie es Ulrich Beck in der „Risikogesellschaft“ vorgelegt hat, unabdingbar. Das Kriterium besagt kurz gefasst, dass manche neuen Technologien erstmals in der Geschichte der Menschheit globale Auswirkungen haben können, die Auswirkungen traditioneller Techniken dagegen begrenzt sind. So müssten die möglichen Risiken der Gentechnik einer Bewertung unterzogen werden, und wenn globale Auswirkungen bei unvorhersehbaren Reaktionen nicht auszuschließen sind, müsste die Technik im Interesse des Überlebens aller zurückgestellt werden, zumal wenn die Vorteile ihrer Anwendung höchst relativ sind.
Ohne Wissen um die Gentechnik als medizinisch-technisches Verfahren, ohne die Mühe des Sichinformierens kann die Gesellschaft und können ihre Philosophen die ethische Debatte um die Gentechnik nicht führen.
Der Autor ist Theologe und mit einer Biochemikerin verheiratet. Er arbeitet als Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Winnacker/Rendtorff et al., „Eingriffe am Menschen – Ein Eskalationsmodell zur ethischen Bewertung“, TTN, München 1997
Zitate:
Molekularbiologen sträuben sich beider Lektüre der philosophischen Auslassungen zuweilen die Haare.Da gehen alle Dinge durcheinander.Ohne die Mühe des Sichinformierenskann die Gesellschaft und könnenihre Philosophen die ethische Debatteum die Gentechnik nicht führen.
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