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Nur der Kuschelhase blieb zu Hause

Bei Adoptionen gerät das Wohl des Kindes gelegentlich in den Hintergrund. Ein aktueller Fall beschreibt, wie ein zweijähriger Junge durch Untätigkeit des Jugendamtes zwischen die Räder von Ämtern und Gerichten geriet. Am Freitag entscheidet das Gericht anhand von zwei unterschiedlichen Gutachten

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Karin B. kommen jetzt noch die Tränen, wenn sie an den Nikolaustag im vergangenen Dezember zurückdenkt. An diesem Tag wurde ihr der knapp zweijährige Justin, den sie seit seinem vierten Lebenstag in Pflege hatte und wie ihr eigenes Kind betrachtete, überfallartig weggenommen.

Am 6. Dezember 1999 um 9 Uhr morgens empfing Karin B. in ihrer Wohnung den angekündigten Besuch einer Kinderpsychologin in Begleitung eines adoptionswilligen Ehepaares. Karin B. wurde mitgeteilt, dass sie für eine Stunde mit Justin spazieren gehen wollen. Als die Stunde verstrichen war, ahnte die 48-Jährige Schlimmes: „Die kommen nicht wieder.“

Gegen 13 Uhr hatte sie die schlimme Gewissheit. Vor der Tür stand die Psychologin. Doch statt Justin hatte sie dessen Vormund dabei, der sich urplötzlich zu dieser Aktion entschlossen hatte. „Er sagte mir, dass sie Justin zum Kindeswohl hätten mitnehmen müssen“, erzählt sie. Dass Karin B., deren Adoptionsantrag mit Hinweis auf ihr Alter abgelehnt wurde, nicht vorher informiert wurde, begründet der Vormund so: „Es stand zu befürchten, dass sie die Vermittlung unterlaufen würde.“ Karin B. konnte sich nicht von Justin verabschieden. „Nicht mal seinen geliebten Kuschelhasen konnte er mitnehmen.“

Der Wegnahme Justins waren zwei Besuche des von der Adoptionsstelle ausgesuchten Ehepaares vorausgegangen. Doch weil der Junge „das ganze Haus zusammenschrie“, wie sich Karin B. und ihr Lebensgefährte Lothar D., ein 44-jähriger Gärtner, erinnern, seien sie wieder gegangen. Der Vormund nennt das „erste Anbahnungen“. Zuvor hatte sich ein anderes Paar vorgestellt, dass jedoch Abstand genommen hatte, nachdem es gesehen hatte, wie sehr der Junge dort verwurzelt ist.

Eigentlich hätte Justin gar nicht so lange bei Karin B. bleiben sollen. Karin B. bekam das Kind im Alter von nur vier Tagen vom Jugendamt Mitte in Kurzzeitpflege, nachdem es von seiner leiblichen Mutter verlassen worden war. Eine Krankenschwester fand ihn zwei Tage nach seiner Geburt bei einem Hausbesuch. „Der Junge war wie vertrocknet und hat nur gebrüllt“, erzählt Karin B. Er habe unter einer Nierenschwäche, Blähungen und Choliken gelitten. Sie habe ihn „im 24-Stunden-Dienst“ versorgt. „Er hatte Angst, verlassen zu werden“, so Karin B. Im Laufe der Zeit habe sich sein Zustand gebessert.

Aus den vorgesehenen drei Monaten wurden neunzehn Monate, in denen das Jugendamt die Pflegeeltern im Ungewissen ließ. So lange brauchte die Behörde, um den Gesundheitszustand des Jungen zu begutachten und um festzustellen, dass die leibliche Mutter für die Erziehung ungeignet ist – eine Zeit, in der Justin seine Pflegeeltern Mama und Papa nannte und sie ihn wie ihr eigenes Kind liebten.

Für Karin B., die inzwischen einen Antrag auf Rückgabe gestellt hat, steht fest, dass das Jugendamt durch die plötzliche Wegnahme sein Versagen vertuschen will. B.’s Anwalt Mathias Fiedler wird deutlicher: „Mit dem Verfahren soll eine gesetzwidrige Handlungsweise verschleiert werden.“ Am Freitag wird das Amtsgericht Pankow/Weißensee entscheiden, ob die zwischen Justin und Karin B. entstandenen Bindungen so stark sind, dass die Wegnahme gegen das Kindeswohl verstoßen hat.

Das Gericht wird sich dabei auf zwei verschiedene Gutachten stützen. Eins hat die vom Amtsgericht bestellte Verfahrenspflegerin Geertje Doering vom „Kinderbüro e.V.“ erstellt. „Das Kind hätte nach spätestens sechs Monaten aus der Kurzpflege genommen werden müssen“, so die Psychologin. Doering, die Justin sowohl bei seiner jetzigen Pflegefamilie, wo er in „unentgeltlicher Adoptionspflege“ lebt, als auch zusammen mit Karin B. und Lothar D. erlebt hat, kommt zu dem Schluss, dass die Herausnahme von Justin aus dem Haushalt von Frau B., „die die faktische Elternschaft übernommen hat“, in eklatantem Maße eine Verletzung des Kindeswohles darstellt.

Weil die Adoptionsvermittlungsstelle der Psychologin „frühzeitige Parteinahme“ vorwirft, hat das Gericht ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben. Darin wird zwar eingeräumt, dass Justin zu spät aus seiner ersten Familie herausgenommen wurde und damit gegen das Kindeswohl verstossen wurde. Doch einen Fehler könne man nicht durch einen erneuten Fehler wieder wettmachen.

Anwalt Fiedler hält den Vorwurf der Voreingenommenheit für völlig absurd. „Sie ist der Interessenvertreter des Kindes und keine außenstehende Dritte, die wie ein Schiedsrichter entscheidet.“ Er hat eine Stellungnahme zu dem „unzulänglichen und einseitigen Gutachten“ erstellt, die er gestern dem Gericht übermittelte. Höchst erstaunt ist der Anwalt auch darüber, dass das persönliche Erscheinen seiner Mandantin für Freitag nicht angeordnet wurde. „Immerhin geht es um eine wichtige Sache, die sie und das Kind betrifft.“ Fiedler hat den Eindruck, dass die Adoptionsstelle und das Jugendamt „in das laufende Verfahren unzulässig stark eingreifen“. Als er vor drei Wochen mit der Richterin sprach, habe sie ihm gesagt, dass man ein Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht wettmachen könne. Der gleiche Satz wie im zweiten Gutachten, das zu dem Zeitpunkt noch nicht vorlag.

Auch der Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses beschäftigt sich mit dem Fall. Ein stellvertretender Direktor eines Amtsgerichts und seine Frau, die ihre zweijährige Tochter bei Karin B. in Tagespflege haben, machten eine Eingabe – „aus tiefer Sorge um Justins Kindeswohl“. Darin schreiben sie, dass sie den Eindruck haben, „dass unter Missachtung jedweder Umstände des Einzelfalles eine einmal ex cathedra getroffene Behördenentscheidung ohne Rücksicht auf das Kindeswohl durchgesetzt werden soll“. Der Petitionsausschuss wartet noch immer auf eine vor zwei Monaten bei der Senatsjugendverwaltung angeforderte Stellungnahme.

Während das Jugendamt nach langer Zeit der Untätigkeit eine Brachialadoption durchsetzen will, hat die leibliche Mutter bisher noch nicht ihr Einverständnis zur Adoption gegeben. Ein Antrag auf Einwilligung in eine Adoption beim Gericht wurde bisher auch nicht gestellt.

Ganz deutlich zeigt dieser Fall, dass die Ansichten der Beteiligten über das Wohl des Kindes, das im Vordergrund stehen sollte, weit auseinander gehen. Die Leiterin der Adoptionsvermittlungsstelle des Senats, Ingrid Böhnlein, die sich zu dem schwebenden Verfahren nicht äußern will, sagte gegenüber der taz, dass man das Kindeswohl nicht nur „von der Bindung aus“ sehen dürfe. Man müsste „in Anbetracht der Zukunft einen Schnitt machen“. Denn Kindeswohl heiße auch: „Wo wird das Kind sein Leben verbringen?“ Sie räumte jedoch ein, dass bei überlasteten Familiengerichten, der Beteiligung mehrerer Behörden, einer schwierige Situationen bei den leiblichen Eltern und Krankheit und Urlaub beteiligter Mitarbeiter „schon mal Zeiten vergehen können, die man nicht will“.

Das Jugendamt brauchte fast zwanzig Monate, um zu dem Schluss zu kommen, dass der weitere Verbleib von Justin bei der erfahrenen Krippenerzieherin Karin B., die jahrelang als Tagespflegemutter gearbeitet hat, „nicht mehr zu verantworten“ sei. Nicht nur das. Sie wird für die weitere Betreuung von Kindern „nicht für geeignet gehalten“.

Seltsamerweise hat das gleiche Jugendamt der angeblich ungeeigneten Pflegemutter wenige Tage später die Tagespflege für ein fünf Monate altes Kind übertragen. Dessen Mutter berichtet, dass sie sich sehr freut, wie gut ihre Tochter bei Karin B. aufgehoben ist. „Wenn ich sie hinbringe, strahlt sie die Tagesmutter und die anderen Kinder freudig an, wenn ich sie abhole, merke ich, dass sie einen schönen Tag verbracht hat“, sagt sie.

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