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Auf der Suche nach Elite

Angesichts der ungewissen Zukunft erklingt der Ruf nach einem Orientierung stiftenden gesellschaftlichen Führungspersonal. Aber wie sehen sie aus, die neuen Eliten? Auf welchen Traditionen fußen sie, und wie viel Macht sollen sie haben?von HEINZ BUDE

Wer sich heute bei uns mit Eliten beschäftigt, stößt bald auf das Diktum Adornos: „Elite mag man in Gottes Namen sein; niemals darf man als solche sich fühlen.“ Die eigentümliche Dialektik dieser Stelle besteht darin, dass sie die Kritik des Elitebegriffs mit seiner Bekräftigung verbindet. Was nämlich gern als knappe Erledigung von selbstgerechtem Elitismus zitiert wird, enthält bei genauerem Lesen die Unterstellung eines mysteriösen Seins, das eine wahre Elite auszeichnet. Emporkömmlinge und Neureiche mögen sich als Elite gerieren, nur wer wirklich dazugehört, spricht nicht darüber, aber verhält sich danach.

Der Ausspruch also, der gegen Standesdünkel und Herrenmenschentum gerichtet ist, begründet zugleich den Unterschied zwischen einer sich als sich selbst wissenden Elite und einer sich bloß als solche fühlenden Pseudoelite. So behauptet der Elitebegriff ein verborgenes Mehr, das für Außenstehende nicht so leicht erkennbar und für Aufstrebende nur ganz schwer erfüllbar ist.

Dabei ist der Begriff der Elite demokratischen Ursprungs. Die Bezeichnung entsteht im merkantilistischen Frankreich aus dem Bedürfnis des aufsteigenden Bürgertums, dem Adel in Berufung auf Tugend und Leistung seine Stellung streitig zu machen.

Nicht die ständischen Kriterien von Blut und Besitz sollen zählen, sondern die Leistung, die jemand in freier und offener Konkurrenz erbringt. Die Zugehörigkeit zur Elite wird, wie man soziologisch sagt, „erworben“ und nicht „zugeschrieben“. Etablierte Eliten müssen sich gegen nachdrängende behaupten, und wie die Beispiele von Napoleon oder Henry Ford zeigen, kann ganz nach oben kommen, wer aus relativ einfachen Verhältnissen stammt.

Als Elite kann man daher ganz allgemein Gruppen bezeichnen, die das Ergebnis eines Prozesses von Auslese und Konkurrenz darstellen und deren herausgehobene Stellung sich genau damit rechtfertigt. Es handelt sich auf jeden Fall um eine Minderheit, der vom Rest der Gesellschaft eine gewisse Überlegenheit zugebilligt wird, an die sich bestimmte Erwartungen knüpfen. Die Elite setzt folglich eine Nicht-Elite voraus, die sehnsüchtig oder kritisch, aber doch immer mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese führende Gruppe schaut. Nur muss der Behauptung und Unterstellung von „Führung“ einer bestimmten Leistungsqualifikation bei den „Führenden“ entsprechen. Qua Geburt zählt man nicht zur Elite, sondern man kann durch Talent, Engagement und Initiative in sie aufsteigen. Aber woran zeigt sich dann, ob jemand zur Elite zählt?

Die soziologische Elitentheorie hat darauf im Laufe ihrer Geschichte drei begriffliche Antworten gegeben: Elite dürfen sich erstens die nennen, die die bindenden Werte unseres Zusammenlebens besonders glaubwürdig vertreten, oder zweitens diejenigen, die durch hervorragende Leistungen auf ihrem Gebiet zum Wohlergehen aller beitragen, oder schließlich drittens die wenigen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen und Entscheidungen von großer Reichweite treffen. Dem entsprechend wird zwischen Werteliten, Funktionseliten und Machteliten unterschieden.

Macht verkörpern heute in erster Linie Leute wie Bill Gates und Jürgen Schrempp. Sie stehen für die Gründer großer Unternehmen und die Vorstände multinationaler Konzerne, die mit ihren Investitionsentscheidungen und Produktentwicklungen die Lebenschancen vieler Einzelner bestimmen.

Ihre Gegenspieler sind zumeist die kaum bekannten Verwaltungsspitzen, die aber über die Einhaltung von Umweltauflagen und Sozialstandards befinden und damit einen erheblichen Einfluss auf Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und Arbeitsprodukte haben. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser wirtschaftlichen Prozesse wird nicht unmaßgeblich von tonangebenden Journalisten beeinflusst, die über die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Spiegel oder die „Tagesthemen“ die Agenda der verallgemeinerungsfähigen Themen definieren. Sie öffnen die Bühne für Wissenschaftler, Kirchenfürsten oder sonstige Prominente, von denen Deutungspositionen besetzt und Identifikationsmarken ausgesendet werden. Die Macht der Presse bricht sich freilich an den Setzungen des Rechts und den Bollwerken der organisierten Interessen.

Insofern gehören die Richter hoher Gerichte ebenso zur Machtelite wie die Spitzenfunktionäre der Verbände und die Gewerkschaftsführer. Aber wenn es um die Macht geht, die uns alle betrifft, schaut das Publikum immer noch mit höchster Gespanntheit auf seine gewählten Repräsentanten in der Politik. Kein Star aus der Unterhaltungsindustrie und keine der schillernden Figuren aus der Welt der Reichen kommt an die Aufmerksamkeitswerte des Bundeskanzlers heran. Wer in Regierung, im Parlament oder in den Parteien an der Spitze steht, kann sich trotz aller Eingebundenheit in die Zwänge von Konsens und Effizienz im Zentrum der Macht fühlen.

Der Geruch der Macht verleiht einer Elitefigur die Autorität praktischer Bewährung und übernommener Verantwortung. Wo die Wertelite sich auf ihr Gewissen und die Funktionselite sich auf ihr Ressort herausreden kann, muss die Machtelite Farbe bekennen.

Das sichert ihr in den Augen des Rests der Gesellschaft eine Glaubwürdigkeit des Tuns und Wagens. Doch sobald der Eindruck entsteht, es ginge den Leuten an der Macht nur um die Macht, zerfällt diese Logik der Stellvertretung. Es bedarf mithin schon einer Leistung für die Allgemeinheit, damit die Mächtigen nicht nur als Experten der Selbstdurchsetzung, sondern auch als Repräsentanten eines gemeinsamen Willens erscheinen.

Aus diesem Grunde erlaubt der Begriff der Machtelite die Identifikation typischer Elitekonstellationen, die signifikant für den Gruppenbildungsprozess einer Gesellschaft sind. So kennzeichnet der Typ der tödlich zerstrittenen Elitegruppen, die um Macht und Herrschaft kämpfen, eine wenig konsolidierte Gesellschaft, in der jene historischen Gründungsereignisse noch nicht stattgefunden haben, die die gesellschaftlichen Gruppen auf Dauer zusammenführen und ihnen einen Rahmen für gegenseitiges Vertrauen geben.

Im Konsens geeinigte Eliten stellen ein stabiles liberales Regime dar, in dem der „Machtwechsel“ ohne Staatsstreiche und Bewegungsrevolutionen vonstatten gehen kann. Das übereinstimmende Gefühl, was den Wert bestehender Institutionen und Prozeduren betrifft, ermöglicht im Übrigen die für eine offene Gesellschaft notwendige Form des Elitelernens durch Opposition und Dissens.

Bei diesen Konsensbildungsprozessen spielen freilich die Selbst- und Fremdbilder einer nationalen Elitetradition eine wichtige Rolle. So hat sich für Deutschland der Eindruck verfestigt, dass die intellektuelle, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite immer getrennte Welten bildeten.

Die unhöfische Gesellschaft kannte keine gemeinsamen Formen des Umgangs, und die unbürgerliche Gesellschaft setzte keine gemeinsamen Maßstäbe des Urteils. Die Reichen, die Mächtigen und die Gebildeten hatten wenig miteinander zu tun. Im Blick von außen erschien der Gelehrte oft weltfremd, der Beamte herzlos und der Industrielle ungeschliffen.

Was im Vergleich mit den „klassischen“ Nationen Frankreich und Großbritannien in der Tat bis heute auffällt, ist die Herkunfts- und Ausdrucksschwäche der deutschen Elite. Analoges zu Eton und Oxbrigde, wo man die Zurückhaltung des gentleman, oder zu den „Großen Schulen“ von Paris, wo man den Esprit des honnête homme lernt, gibt es in Deutschland nicht.

Man kann das aber als relative Rekrutierungsoffenheit und bewussten Demonstrationsverzicht verstehen und sich fragen, ob die Bundesrepublik nicht aus einer alten Schwäche eine neue Stärke gemacht hat. Schließlich hat sich das „Modell Deutschland“ über eine lange Nachkriegszeit als eine überaus elastische Form sozialer Synthesis erwiesen.

Gleichwohl kann sich das Publikum mit diesem positiven Bild nicht anfreunden. Man begrüßt, dass der deutschen Elite alle Kastenmerkmale fehlen, und beklagt zugleich die Neigung zur sektoralen Verengung und zur Identifikationsenthaltung. Ein Ruck soll das Allgemeinheitsbewusstsein der Ausgewählten stärken und eine Verantwortungsgemeinschaft der Führenden begründen.

Wer die Probleme des Landes lösen will, hieß es bereits 1992 in einem erregten Appell an die „planlosen Eliten“, muss der Gesellschaft den Glauben an ein gemeinsames Ziel und der Nation das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit geben. In Frage stehen das Selbstbewusstsein der deutschen Elite, ihre Fähigkeit zur Orientierung angesichts einer ungewissen Zukunft und ihre Bereitschaft, zwischen Exzellentem, Durchschnittlichem und Schlechtem zu unterscheiden. Offenbar reagiert die über die Neunzigerjahre sich hinziehende Wiederentdeckung des Elitethemas auf das gefühlte Ende eines gesellschaftlichen Entwicklungspfads und die wahrgenommene Veränderung einer ganzen Weltordnung.

Aber wer sollen die Träger der neuen Führungsleistung sein, und in welchen Kontexten soll sich das renovierte Wertbewusstsein zeigen? Die politischen Parteien scheinen immer weniger als Führungsreservoir in Frage zu kommen, weil in ihren Rekrutierungsprozessen ein negativer Auswahlmechanismus die Oberhand gewonnen hat, den Karl Mannheim schon in den Dreißigerjahren beschrieb: Nicht die Fähigsten werden bevorzugt, sondern die Unerwünschten abgedrängt.

Wenn Führung von der Politik nicht mehr erwartet wird, sucht sich das Publikum seine Führer und Vorbilder woanders. Der „führende Geist der Zivilisation“ (Max Scheler) scheint sich heute für viele eher in der Wirtschaft zu verkörpern. Die Kunst, Gelegenheiten zu benutzen und zu erzeugen, wird mehr mit dem Unternehmer als mit dem Politiker in Zusammenhang gebracht. Der freie Regelwille der Selbstständigkeit wirkt imponierender als das Feilen an Kompromissen und Übereinkünften. Der Manager gilt als prominente Führungsrolle, bei der sich der Autoritätsanspruch der Person am Erfolg in der Verhaltensänderung bei Mitarbeitern, Kunden und Mitbewerbern misst.

Die positiv verwendeten Bezeichnungen wie Kulturmanager, Wissenschaftsmanager oder Quartiersmanager belegen, wie dieses Denken in den scheinbar wirtschaftsfernen Bereichen von Kultur, Wissenschaft und Sozialarbeit Fuß gefasst hat. Das Grundmotiv des ökonomischen Elitetyps zeigt sich nicht mehr wie bei Max Weber in kleinlicher Rechenhaftigkeit und universeller Zweckmäßigkeit, sondern in den Tugenden der Urteilsschärfe, der Geistesgegenwart, der Erfindungsgabe, der Entschlussfähigkeit und der Geschicklichkeit.

Bezeichnenderweise hat sich in dem Maße, wie sich die Führungsrolle der Eliten auf die Wirtschaft als Funktionsbereich und Symbolwelt verlagert hat, die Vorbildrolle des dritten Sektors der viel beschworenen Zivilgesellschaft bemächtigt. Die nervös gestellte Frage nach dem Zement der globalen Gesellschaft hat zur Wiedererweckung des philanthropischen Motivs geführt. Wenn das „öffentliche Gut“ der Sicherheit und Ordnung vom Staat nicht mehr in ausreichendem Maße bereitgestellt werden kann, dann müssen sich die Eliten der Bürgergesellschaft darum kümmern.

Allerdings ist nicht mehr so direkt von einer um sich greifenden Verrohung der Sitten, sondern im Umweg über die sozialwissenschaftliche Aufklärung von dem knapper werdenden „sozialen Kapital“ (Robert D. Putman) die Rede. Nur ändert der moderne Schein der Diagnose nichts an den traditionellen Mitteln der Therapie. Als wichtig und entscheidend für die Stärkung der Bürgergesellschaft werden nämlich die Arbeit vor Ort und die Wirkung des Vorbilds angesehen.

Die Betonung des lokalen Engagements kommt aus den Bürgerbewegungen nach 1968, die ein allgemeines Bewusstsein für den Gedanken der Selbstorganisation geschaffen haben. Ursprünglich wurden die Wirkungsgrenzen von Recht und Politik zum Zwecke der Erweiterung von Räumen der Selbstentfaltung gezogen; heute definiert die lokale Bürgergesellschaft eine Sphäre von Zuständigkeiten für das „gute Leben“ vor der eigenen Haustür.

Reicht für die Beteiligung an einer Stiftung noch die passive Rolle des Geldgebers, so wird man bürgergesellschaftliche Elite erst durch eine Projektform des Engagements. Ob in der sozialen Hilfe oder in der kulturellen Bereicherung, es bedarf immer des Geltungsanspruchs der ganzen Person, durch den man normierend oder stimulierend auf die Lebensweisen anderer einwirkt.

Das ist freilich nicht einfach. Die Schwierigkeiten solcher Betätigung hängen mit dem idealen Charakter der Vorbildfunktion im Unterschied zum realen der Führungsfunktion zusammen: Führung und Gestaltung bedienen sich der Mittel der Macht und des Einflusses, Vorbild ist man nur durch sich selbst. Wo der Führer von den anderen eine Leistung verlangen kann, muss das Vorbild eine Wandlung des Charakters fordern. Noch der härteste Manager braucht die gegenseitige Beziehung zwischen sich und seinen Leuten, wohingegen die Vorbildrolle den anderen zur Hinnahme oder Nachfolge drängt.

Es ist dieser letztlich autoritative Gestus, der in der neuen bürgergesellschaftlichen Elite eine Wiederkehr der alten bildungsbürgerlichen Wertelite erkennen lässt.

Stark gekürzter Vorabdruck aus dem Kursbuch 139: „Die neuen Eliten“, Rowohlt Berlin Verlag, 200 Seiten, 18 DM, das ab 24. März im Buchhandel erhältlich ist

Hinweise:

Es bedarf einer Leistungfür die Allgemeinheit,damit die Mächtigennicht nur als Experten derSelbstdurchsetzung erscheinen

Die Reichen, die Mächtigenund die Gebildeten hatten wenigmiteinander zu tun. Der Gelehrteerschien weltfremd, der Beamte herzlosund der Industrielle ungeschliffen

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