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„Wie das war mit dieser DDR“

Interview NICK REIMER

taz: Herr Heym, heute vor zehn Jahren wählte das Volk seine letzte Volkskammer. Was wird von der DDR bleiben?

Stefan Heym: Es werden Erinnerungen der Menschen bleiben, die in diesem Staat gelebt haben. Es werden Erinnerungen an die sozialen Errungenschaften bleiben, die allerdings nicht wirklich errungen, sondern von oben gegeben waren. Zum Beispiel Arbeit für jeden, ein kostenloses Gesundheitswesen, ein Dach über dem Kopf, wenn auch nicht für jeden ein sehr schönes. Und ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit wird erinnerlich bleiben. Es gab nicht diese Differenzen, die man jetzt hat: Hier die ganz Reichen, dort die ganz Armen. Man wird sich aber auch an die vielen Mankos des Systems erinnern, vor allen Dingen – und das war die Hauptsache – hatten die Leute nicht das Gefühl, dass dieser Staat, die Produktionsmittel dieses Staates die ihren waren. Das hat gefehlt, und daher kam es auch, dass die Menschen 1990 alles so leicht hingegeben haben.

In Ihrem Buch „Schwarzenberg“ schrieben Sie: „Wir wollen versuchen, etwas zu bauen, was es in Deutschland noch nie gegeben hat und wofür es auch in keinem anderen Lande ein gültiges Modell gibt: Demokratie.“ Woran ist der Versuch im Wendeherbst gescheitert, etwas Neues zu bauen?

Ich glaube, an zwei Dingen. Einmal daran, dass die Leute materiell Vorteile erwarteten von einer Wiedervereinigung. Und das Zweite – das Wichtigere –: Er ist gescheitert, weil die psychologische Kriegführung des Westens die Losung „Wir sind das Volk“ umkehrte in „Wir sind ein Volk“. Das war gesteuert. Ebenso wie gesteuert war, dass es plötzlich diesen Überfluss an schwarzrotgoldenen Fahnen gab.

Sinngemäß schrieben Sie in Ihrem Buch „Ahasver“: Alle missglückten Revolutionen entschuldigen ihr Versagen mit der Unvollkommenheit der Menschen.

So ist es. Aber genau genommen gab es in Deutschland nach Kriegsende keine Revolutionen. 1945 bekamen sie doch das veränderte, das revolutionäre Regime auf dem Tablett serviert von den Russen.

Immerhin bestand 1989 eine revolutionäre Situation; die Chance, dass sich das Volk selbst seine Ordnung schafft.

Das hätte bedeuten müssen, dass tatsächlich die Produktionsmittel vom Volk ergriffen worden wären. Das wiederum hätte vorausgesetzt, dass sich entweder die Partei hätte reformieren müssen – was sie nicht tat – oder dass eine andere Organisation entstanden wäre, die im Weiteren fähig war, die Macht zu übernehmen. Die Bürgerbewegung war doch wirklich armselig dran.

Woran lag das? Fehlte ein Kopf wie etwa Václav Havel?

Es war nicht nur die Frage eines Kopfes. Das war die Frage einer Idee: Was sollte das dann werden, dieser neue Staat, den man haben wollte oder könnte. Es gab kaum Leute, die nachgedacht hatten, geschweige denn dass sie sich dafür organisierten. Es gab keine revolutionäre Organisation. Die Russen hatten 1917 eine linke sozialdemokratische Partei, also eine Organisation, die bereitstand, die Macht zu übernehmen. In der DDR gab es aber keine linke oder eine andere Organisation, die die Macht hätte übernehmen können. Es gab nur die Kapitalisten. Und die waren interessiert an einem effizient funktionierenden Staat, unterstützt von einer Weltmacht.

Bis heute ist es uns Ostdeutschen nicht gelungen, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Das machen die Westdeutschen. Warum diese Sprachlosigkeit?

Aus denselben Gründen, aus denen man 1989 nicht die notwendigen Veränderungen schaffen konnte, kann man jetzt nicht über Vergangenheit nachdenken. Es ist keine Klarheit in den Köpfen darüber, was geschehen ist. Zu viel ist aus dem Westen an Slogans, falschen Anschauungen, falschen Leitartikeln den Menschen aufgeprägt worden, als dass sie korrekt nachdenken und selber feststellen könnten, wie das da war mit dieser DDR und woran es gelegen hat, dass alles so kam, wie es kam. Die Aufarbeitung kann nicht erfolgen, indem sich der Westen hinstellt und sagt, die DDR war ein Unrechtsstaat. Wir müssen nachdenken: Was ist wirklich geschehen, wo ist wirklich Unrecht begangen worden? Und: Was war berechtigtes Unrecht, das der Staat begangen hat?

Auf dem internationalen Kolloquium der Schriftsteller sozialistischer Länder haben Sie 1964 gefordert: „Wir diskutieren unsere Anschauungen, um den Leib des Sozialismus von den Rost- und Blutflecken der Stalin-Ära zu befreien und von dem Schimmelpilz der Bürokratie zu säubern.“ Was ist der Sozialismus heute noch wert?

Hören Sie, die Tatsache, dass unter dem Namen Sozialismus ein System ausgeübt wurde, das eben nicht sozialistisch war, sagt doch nicht, dass der Sozialismus als Idee gescheitert ist. Da der Kapitalismus aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht in alle Ewigkeit Bestand haben wird, ist doch anzunehmen, dass eine andere Gesellschaftsordnung dann kommt – vorausgesetzt die Menschheit überlebt bis dahin. Diese andere Ordnung kann nur eine wenigstens von der Tendenz her sozialistische sein.

In Ihrem Buch „Radek“ schrieben Sie, „dass dieser Sozialismus nicht kommen wird durch frommes Beten und geduldiges Warten, sondern nur und ausschließlich durch die Revolution“. Schwer vorstellbar, dass es in diesem globalisierten Kapitalismus jemals wieder eine revolutionäre Situation gibt . . .

Funktioniert dieses System denn tatsächlich so gut?

Nach innen schon.

Aber wenn Sie nicht nur Zentraleuropa betrachten, sondern auch die anderen Teile der Welt, dann funktioniert es überhaupt nicht.

Findet demnach die nächste Revolution in Südamerika statt?

Ich kann mir vorstellen, dass überall Revolution gemacht wird. Einer der Mängel des ersten Versuchs von Sozialismus war doch, dass die Revolution zuerst am falschen Ort gemacht wurde – nicht dort, wo Marx und Engels es erwartet hatten.

„Jede bisher entworfene Utopie war eine Diktatur, die die Menschen zu ihrem Glück zwang und jene, die sich eine andere Art von Glück vorstellten, liquidierte“, heißt es in „Schwarzenberg“. Lässt sich Sozialismus so reformieren, dass er demokratisch ist?

Sozialismus geht nur mit Demokratie. Durch das Fehlen von Demokratie ist doch die Sache schief gelaufen. Wer den Sozialismus dort, wo noch einige Züge davon erhalten geblieben sind, erhalten will, muss ihn mit demokratischen Elementen bereichern.

War es ein Fehler, für die PDS zu kandidieren?

Überhaupt nicht. Sie sehen doch, was das für Aufregung erzeugt hat.

Stefan Heym hat aber nie daran gelegen, vordergründig nur heiße Luft zu erzeugen. Da steht doch immer etwas dahinter?

Eben weil etwas dahinter stand, hat es so viel Aufregung erzeugt.

Auf der größten Demonstration des Wendeherbstes, am 4. November, wurden Sie als der Nestor der Bewegung gefeiert . . .

Ah, diese Slogans, diese Titel und Benennung, das ist doch alles Unsinn. Ich habe mich peinlich berührt gefühlt bei dem Wort Nestor. Unter anderem auch, weil es mich an meine Jahre erinnert hat. Daran hatte ich in diesem Moment nun überhaupt nicht gedacht . . .

Abgesehen von Titeln, was bedeutete der Augenblick für Sie?

Ich hatte das Gefühl, dass das einer der ganz großen Augenblicke in meinem Leben ist. Dass ich den Kontakt hatte, den persönlichen, von Herz zu Herz, mit hunderttausenden von Menschen, die mir zuhörten, und irgendwie spürten, dass ich das Richtige sagte und Recht hatte.

Das war am 9. Dezember, bei der zweiten Demonstration, auf der Sie sprachen, anders. Sie warben für eine eigenständige DDR und fragten, „was für ein geeintes Deutschland es denn sein soll: ein Großdeutschland wieder, wie gehabt, durch Anschluss zusammengekommen?“ Wo steht Deutschland heute?

Wir leben in einem Staat, in dem sich dauernd neue Vorgänge entwickeln, und zwar so, dass man nicht sagen kann, wo und wie das Ende sein wird; wenn man überhaupt von einem Ende reden kann. Klar scheint: Wenn sich die wirtschaftlichen Dinge falsch entwickeln, zusammenbrechen, wenn die Mehrheit der Menschen dadurch in eine akute Notlage gerät, dass dann der Wunsch nach einer starken Hand auftaucht. Die wird dann natürlich auch vorhanden sein und braucht nur aus der Versenkung gezogen zu werden. Dies wird nicht kurzfristig sein, sondern mittelfristig.

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