: Im Steinbruch des Flamenco
Sevilla ist eine der Flamenco-Hochburgen. Die Artisten werden allmählich aus der Altstadt verdrängt, die sozialen Grundlagen verändern sich, doch was ein Traditionsstil ist, gedeiht sogar in Beton
Ein ernster Zug schiebt sich zwischen das freundliche Lächeln, wenn sich die Sängerin Esperanza García an ihr Auftrittsverbot zu Ehezeiten erinnert : „Mein Mann wollte, dass ich lieber das Haus hüte, statt auszugehen und zu singen. Er hingegen gönnte sich diese Freuden, schließlich brachte er das Geld ins Haus ...“
Mittlerweile ist die kleine Frau mit dem weißen Haarknoten Witwe – und auf die Bühne zurückgekehrt. Eines Tages bezirzten sie die anderen Solisten des Ensembles Triana Pura zu einem Auftritt, dann hieß es: „Du bleibst bei uns!“ Und sie blieb. Seit 1983 hält die Gruppe die musikalischen Traditionen des „unverfälschten Triana“ wach.
Der sevillanische Stadtteil Triana gilt als einstige Vergnügungshochburg der Gitanos („Zigeuner“) und, neben Cádiz und Jerez, als Wiege des Flamenco. Die Mitglieder von Triana Pura, die allesamt aus dem Viertel stammen, haben mehrere Jahrzehnte dieser Musik mitgeprägt. Doch der Flamenco wird zusehends zu einer touristischen Angelegenheit – und das Triana-Viertel zu einer unbezahlbaren Wohngegend. „Mit Fiestas ist es heute vorbei. Während wir früher ständig zu den Privatfesten gerufen wurden, haben wir nun einen Manager, der unsere Auftritte organisiert.“
Die Musik der mittlerweile auf fünf Rentner reduzierten Band ist nostalgisch – aber zunehmend populär. Ganz Spanien kennt den schunkeligen Rumba vom „Armen Miguel“, und seit kurzem ziert Platin Esperanza Garcías kleine Altbauwohnung in Triana. Ihr Fazit: „Wir werden wohl eine weitere Platte machen müssen.“ Für die Senioren im Gesamtalter von knapp 400 Jahren war nicht nur der Gang in ein Studio eine ganz neue Erfahrung, erstmals können sie von ihrer musikalischen Arbeit leben. Ein Los, das sie mit ihren Altersgenossen auf Kuba teilen. Aus dem Mund jener alten Kubaner könnte auch Esperanzas Devise stammen: „Man muss das Leben leben. Um es zu verschlafen, bleibt noch genug Zeit.“
Was wie eine Platitüde klingt, spricht auch den Bewohnern der sevillanischen Suburbs aus der Seele. Der im Volksmund schlicht „Tres Mil Viviendas“ – dreitausend Wohnungen – genannte Vorort liegt auf dem Ackerland zwischen Eisenbahnschienen und der Landstraße nach Cádiz. Seit den 60er-Jahren wurden dort als Ausweichquartier für die Innenstädter, in erster Linie die „Zigeuner“, Wohnsilos errichtet, die Sevilla nun wie ein Gürtel aus Beton umschließen. Es heißt, dass Gegenden wie das Tres Mil bis vor wenigen Jahren selbst von der Polizeistreife umfahren wurden. „Die Leute meinen, man könne unser Viertel nicht betreten, seinen Bewohnern nicht trauen. Doch gibt es auch ein ganz normales, ruhiges Leben, jenseits von Drogen und Korruption“, erklärt der Musiker Rafael Amador. Mit seinem Bruder, Raimundo bildete er einst das Erfolgsduo Pata Negra, das erstmals Flamenco und Blues kombinierte. Der Sänger und Gitarrist ist bekannt in Tres Mil, sein Einkommen würde ihm längst die Wahl einer besseren Wohngegend erlauben. Doch ein Weggang aus der „Bronx“ Sevillas kommt für ihn nicht in Frage. „Dieselben Leute ziehen gemeinsam von einem Ort zum nächsten. Und so wohnt dein früherer Nachbar aus dem Triana-Viertel heute eben wieder nebenan.“ Mit den Sozialstrukturen herübergerettet wurde auch das musikalische Treiben, eine, Klischee hin oder her, tragende Säule im Gitano-Alltag. Auch das Tres Mil verfügt über einen reichen Fundus an Amateur- und Profimusikern. Die Sänger, Tänzer und Instrumentalisten jammen entweder in Familien oder geben hin und wieder ein öffentliches Konzert.
Bei einem solchen wurde Paco Ortega hellhörig, ein Madrider Musiker, Komponist für Flamencosänger und Talentscout. Neuester Beweis für sein Gespür ist die junge Flamencosängerin Niña Pastori. Ortega begab sich eines Tages in den „Steinbruch des Flamenco“, wie das Tres Mil auch genannt wird, und produzierte mit einer Handvoll Musiker im Alter von zehn bis siebzig Jahren die CD „Viejo Patio“, zu Deutsch: „Alter Innenhof“. „Die Platte ermöglicht einen Einblick in die vielen Facetten unseres Viertels und zeigt die Professionalität der Musiker“, resümiert Rafael Amador, der am Projekt beteiligt war. „Obwohl einigen der Kick zum Experimentieren vielleicht noch etwas fehlt, wie ich finde. Aber mal sehen, was in dieser Richtung noch passiert.“
Passiert ist jetzt schon viel: Die CD verkauft sich gut, und der Erfolg bringt für die Musiker angenehme Mehrarbeit mit sich. Der Initiator Paco Ortega denkt bereits an eine Fortsetzung dieser dokumentarischen Arbeit mit Vertretern jüngerer Musikstile wie Elektronik, Dance und HipHop, Rock und Pop, die neben dem Flamenco längst auch ihre Wurzeln in Tres Mil Viviendas geschlagen haben.
Ebenfalls am Stadtrand von Sevilla lebt heute der Flamencosänger El Lebrijano, allerdings in einer besseren Gegend. Dass der im andalusischen Lebrija geborene Sänger für sein künstlerisches Tun eine gehörige Portion Ruhe und Abgeschiedenheit benötigt, ist manchen seiner über dreißig Platten gut anzuhören. Hierzulande ist der 58-Jährige bekannt geworden durch seine Alben „Encuentros“ und „Casablanca“ im Stil andalusisch-arabischer Musiktradition.
Der Flamenco-Gesang zeigt sich bei El Lebrijano von seiner kunstfertigsten Seite. „Den Stellenwert, den die großen klassischen Werke etwa eines Beethoven längst haben, den muss man auch dem Cante Gitano heutzutage zusprechen“, befindet El Lebrijano, „denn dieser Gesang verfügt über die entsprechenden Qualitätsmerkmale wie Rhythmus, Timing, Phantasie und künstlerisches Können.“ Seine neueste Arbeit „Lágrimas de cera“, Tränen aus Wachs, soll den Flamenco weltläufig machen. Mit Musikern aus Frankreich, Marokko und Spanien, mit bulgarischem Chor und einer Obertonsängerin aus Tuva entwickelte er in elf Stücken eine weltmusikalische Vision der Karwoche. „Bei allem Respekt für diese jahrhundertealte Ostertradition – mir ging es darum zu zeigen, dass man Gott auf verschiedenste Art besingen, den Dialog mit ihm in jeder erdenklichen, vom Menschen gewählten Form gestalten kann.“ Bei der Verbindung der Teile zu einem sinfonischen Ganzen wurde der Boden des Flamenco zwar nicht verlassen, aber weit gefasst. Dass die Zusammenarbeit ausgerechnet in Sevilla zustande kam, einer Hochburg der Orthodoxie – sowohl des Katholizismus als auch des Flamenco – stimmt zuversichtlich. Für beide. KATRIN WILKE
Triana Pura: „De Triana al Cielo“ (Senador) Las 3000 Viviendas: „Viejo Patio“ (EMI Spain) El Lebrijano: „Lágrimas de Cera“ (EMI Spain) Bezug über Mundo Flamenco in Freiburg, Tel: (07 61) 28 74 11
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