: Heidemond von hinten
Wahre Lokale (12): Das „Haus Bangemann“ im Arno-Schmidt-Dorf Bargfeld
Sicher war es eine Serie von Eiszeitschüben, die ausgerechnet in der Lüneburger Heide für die arg geduckte Landschaft gesorgt hat und für eine ebenso geduckte Varietät Mensch. Auch der Himmel hängt recht niedrig. Die Gegend findet ihre Bestätigung in einem denkbar bescheidenen Begriffsapparat und einem gefährlich reduzierten Arsenal an Mimik und Gestik, mit dem dort eine Verständigung in Gang gehalten werden kann. Stieg man einst in die Wipfel eines Eichenkamps, der früher in jedem Dorf die Sauenaufzucht absicherte, konnte man der Landeshauptstadt freche Gesichter schneiden. Heute laufen die Heide-Ticker höchstens heiß, wenn in den Gemarkungen wieder einmal eine Eichel aus den Wipfeln geplumpst ist. Schwer erklärbar, warum an diesem Flecken selbst die Sonne Lust hat auf- und auch unterzugehen.
Die Inhabitanten, den Geworfenheiten der agrikulturellen Daseinsform ausgeliefert, drängte es früher gegen Abend zu einigen Bieren, korrespondierend dazu sicher zu der einen oder anderen Spirituose. Denn das Weib ist das Böse. Und man konnte beobachten, dass die angenehmen und kurzweiligen Begleitumstände öffentlichen Rauschmittelgenusses gerade hier nicht in ihre Rechte traten. Vielmehr brütete der Nährstand apathisch über dem Glas mit Wolters und über der Fruchtfolge. Ein unvermitteltes Grunzen fiel dabei mitunter ab, ein verlegenes Kopfkratzen. Dann wurde die Rechnung bezahlt, der obligatorische Gang in den Stall angetreten, das eine oder andere am lieben Vieh zu vollziehen. Freudlos und am Sein traurig geworden.
Wer in solchen Breiten ein Lokal betrieb, musste nicht eben eine Stimmungskanone sein, Eloquenz wäre ihm auch schnell als etwas Städtisches ausgelegt worden, und eine ausufernde Speisekarte ohne gravierende Fehler im mündlichen Ausdruck wäre aller Debakel größtes. Auf ihr mussten sich Gerichte manifestieren, die dem Fremden sofort von der Lust zur Aufnahme fester Speise abhielten. Zum Beispiel der legendäre Stramme Max – ein Schinkenwürfelgebirge unter einem derben Hut aus drei Dutzend Spiegeleiern. Dazu eine saure Gurke und ein mariniertes Pfefferkorn. Und das Mauerwerk außen muss mit dunkelbraunem Klinker verblendet sein. Eine Langnesefahne möge farbliche Akzente setzen – fertig.
Das „Gast- und Pensionshaus Bangemann“ in Bargfeld ist heute eigentlich nur eine Art Saal, welche die noch immer riesigen Heidefamilien nutzen, um ihre Jubiläen zu zelebrieren. In einem winzigen Raum daneben brodelt die Schankanlage, die Scheiben filtern braunes Licht herein. Der Autochthone sucht die Lokalität selten mehr auf, denn für die allabendlichen Verrichtungen ist sein Max auch mit dem Strammen Max nimmer stramm genug zu bekommen. Und das, was als seine Gattin die darstellbare Form flieht, sieht er erst hier wieder regelmäßiger: beim Geburtstag, dem Feuerwehrball, der Silbernen Hochzeit im Saal des „Gast- und Pensionshauses Bangemann“ nebenan.
Eine gewisse Besonderheit bezieht das „Gast- und Pensionshaus Bangemann“ aus dem Umstand, dass es statt Wolters Wittinger Bier zapft. Die Gegend ist nämlich seit Anbeginn in Wolters-Würgehand. Und wer es nicht weiß, dahinter verbirgt sich eine geschützte Brauwerkstatt in Braunschweig, die recht unkonventionelle Auffassungen zu den Trinkeigenschaften ihres Produktes ästhetisiert. Eine weitere Besonderheit ist das nicht ganz zufällig in Bargfeld aufgepflanzte Headquarter der Arno-Schmidt-Stiftung. Das ganze Jahr über reisen Mitglieder des bewaffneten Armes der Arno-Schmidt-Bewegung an, lassen sich die Katzen im Schmidtschen Garten zeigen, probieren seine schwere Lederjacke (dunkelgrün) an. Die rivalisierenden Schmidt-Gangs radeln durch die endlosen Furunkelrübenfelder und Kartoffelvertragsanbaugebiete für Chio Chips, lassen das eine oder andere Schild „Kartoffeln hier – ohne Gülle“ mitgehen und schlafen irgendwann mal auf den Rädern ein. Sie rufen inständig: „Also so sieht der Mond von hinten aus!“ Sie trinken hernach draußen unter den gestutzten Linden vor dem „Gast- und Pensionshaus Bangemann“ ansehnliche Quantitäten Wittinger, was der vor zwei Jahren dahingeschiedene Bangemann sen. oft gar nicht gern sah und öfters mit der Warnung flankierte: „Sauft da mal nich’ so viel von, werdet ihr bloß besoffen.“ Trotzdem stellen sie sich ein Unreifezeugnis nach dem anderen aus und fallen gegen ziemlich pünktlich 2.30 Uhr komplett defiguriert in die weichen Pensionsbetten. Für den Zeilensatz selbst dieser Zeitung können Sie dort gut für ein halbes Jahr logieren, den ohne ihre Sauen abends beschäftigungslos gewordenen Landwirten ihre ausgelesenen Pfiff!-, Praline- oder Coupé-Hefte zum Altpapierpreis vertickern und mit dem Geld weitere zwei Jahre ausharren und darauf warten, dass der Himmel endgültig herunterfällt.
Wenn Sie besonderes Glück haben, fällt auch eine Eichel aus den Kronen. MICHAEL RUDOLF
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