Aufbruch nach Durchbruch

„Ich glaube an die Zukunft des Modells Band genauso wie an die Zukunft des Modells Sozialismus“: Der Indierock-Musiker Christopher Uhe hat das flache ostwestfälische Land gegen einen Ostberliner Plattenbau getauscht

von THOMAS WINKLER

„Der da drüben ist jetzt DJ in Berlin / Überhaupt zieh'n jetzt einige dahin“. Fast fünf Jahre sind diese Zeilen schon alt, nun scheinen Tocotronic doch noch Recht zu bekommen. Viele ihrer Musikerkollegen ziehen mittlerweile nach Berlin. Sogar in die Hochhäuser in der Leipziger Straße, aus denen die alteingesessenen Ostmieter gar nicht schnell genug raus kommen konnten. „Man hat total seine Ruhe hier“, ist Christopher Uhe zufrieden, „es ist anonym und wir können hier bis fünf Uhr morgens Musik machen.“ Allerdings ohne Schlagzeug.

Im Ostwestfälischen waren Uhe und sein Kumpel Dirk Dresselhaus alias Schneider (kein Vorname) mal zusammen, mal mit anderen in Bands wie Speed Niggs, Great Tuna, Hip Young Things, Schneider TM, Family Affair, Sharon Stoned oder Locust Fudge seit Ende der 80er Jahre zu Legenden des Indierock geworden. Dass beide ihre vertraute Homebase, das flache Land um Bielefeld herum, vor einem Jahr ausgerechnet gegen einen ostdeutschen Plattenbau eintauschten, war nach dem Ende der jeweiligen Hauptbands „eine bewusste Entscheidung“

Ein paar Stockwerke weiter unten wohnt mit der ehemaligen 18th-Dye-Gitarristin Heike Rädeker eine alte Bekannte; ansonsten genießt man Zentralheizung, Müllschlucker, die gute Verkehrsanbindung und die freundliche Sachbearbeiterin in der Hausverwaltung, die, und das kann ja wohl kein Zufall sein, Schneider heißt. In der Küche stehen mehr Gitarrenkoffer und Verstärker als Stühle, die Wände sind weiß, ein Zimmer ist als Studio und Übungsraum eingerichtet - schlichte Sachlichkeit. Die aus der Ferne betrachtet so agile Szene in Ostwestfalen aufzugeben, sagt Uhe, das war „kein Verlust. Wir hatten doch nie das Gefühl, dass es überhaupt eine Szene ist. Das waren doch immer nur zehn Leute.“ Nun trinkt man seinen Tee eben in Berlin „der momentan einzigen Stadt in Deutschland, in der ich mich wohl fühle“.

Einen Tag nach dem Gespräch soll es trotzdem erstmal wieder zurück nach Detmold gehen. Die Freundin wohnt noch in der alten Heimat. Sie heißt Michaela Latzel und spielt Schlagzeug in einer Band namens Floor, einem noch aktuellen ostwestfälischen Projekt von Uhe, auf dessen Album „Free Range“ sich eher ungewohnte Klänge finden.

Zwar bewegt Uhe sich auch hier grundsätzlich im Independent-Gitarren-Kosmos, aber das sonst stets leicht zynische, distanzierte Lamentieren ist ungewohnter Leichtigkeit und verbindlicher Freundlichkeit gewichen. Mag „Break Through, Break Down, Break Up“ ein Song über das Ende von Beziehungen sein, hört man das dem wohltemperierten Klavier und den schmachtenden Backgroundchören nicht unbedingt an.

Viel Soul hat er in den letzten beiden Jahren gehört, erzählt Uhe, „mal sehen, ob in den Sachen, die wir demnächst machen, noch viel Rock drin sein wird“. Bei Locust Fudge haben Uhe und Schneider ausführlich mit Elektronik experimentiert.

Uhe wäre nicht Uhe, hätte er frisch in Berlin nicht gleich wieder begonnen, möglichst viele neue Bandzusammenhänge herzustellen: Mit Mitbewohner Schneider spielt er sowieso immer, allerdings will man sich künftig nicht mehr Locust Fudge nennen; mit Rädeker und Christoph Hein von Mina nennt man sich Evonike; Uhe, Schneider und Hana Yo heißen Paincake, sind aber bislang erst zwei Mal aufgetreten. Uhe scheint nicht leben zu können ohne die Band als Familie, als Heimat: „Ein übertriebenes Harmoniebedürfnis wirft mir meine Freundin auch immer vor. Aber ich glaube auch an die Zukunft des Modells Band, so wie ich an die Zukunft des Modells Sozialismus glaube. Das ist fast eine religiöse Haltung.“

Es gibt aber auch ganz profane Gründe für die Bandhäufung. „Ich versuche so viel zu machen, wie geht“, sagt Uhe, „das ist ökonomisch bedingt.“ Von Sharon Stoned konnte er zwei Jahre lang leben, als man einen Plattenvertrag bei einem Major-Label hatte. Ansonsten gilt, Kleinvieh macht auch Mist: Viele Bands können viele Platten machen und viel auftreten. „Ich fühle mich schon unterbezahlt“, sagt der mittlerweile 32jährige Uhe, „aber ich brauche auch nicht viel Geld.“

So kann er seit den Speed Niggs von der Musik leben. Aber dass anderen seine Produktivität unheimlich ist, versteht er: „Ich bin da weniger der Künstler. Zu einem großen Teil sehe ich das als Arbeit.“ Uhe besitzt noch nicht einmal komplett alle Platten, die er jemals veröffentlicht hat. „Ich höre mir die alten Sachen sowieso nicht an.“ Solch funktionales Denken passt dann wohl doch perfekt zum schlichten Charme der Leipziger Straße.

Floor: „Free Range“ (Supermodern/Indigo), Konzert heute um 22 Uhr, Maria am Ostbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8–10