: „Kein Staat akzeptiert Druck“
Interview mit dem früheren indischen Außen- und Premierminister Inder Kumar Gujral zum Südasien-Besuch des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und zu Delhis Verhältnis zu seinen Nachbarn Volksrepublik China und Pakistan
taz: Wird Washington die nach den indischen Atomtests verhängten Sanktionen aufheben?
Inder Kumar Gujral: Die Sanktionen wurden vom US-Kongress beschlossen. Es ist jedoch im Interesse Amerikas, sie aufzuheben, um den großen attraktiven indischen Markt ausbeuten zu können. Es gab bisher zehn Gespräche zwischen Indiens Außenminister und US-Staatssekretär Strobe Talbot, in denen Fehleinschätzungen verringert werden konnten. Jetzt müssen beide Seiten erkennen, dass Sanktionen enge Beziehungen verhindern.
Kann Präsident Clinton Indien zur Unterzeichnung des Atomteststoppabkommens drängen?
Heute akzeptiert kein souveräner Staat Druck. Die Amerikaner verstehen, dass ein Vertrag nur unterzeichnet werden kann, wenn es einen internen Konsens gibt. Nach dem Scheitern der Ratifizierung im US-Senat müssen die Amerikaner selbst erst einen Konsens finden, was auch für Russen und Chinesen gilt. Selbst wenn Indien unterschreibt, könnte das Abkommen nicht in Kraft treten.
Führt die amerikanisch-indische Annäherung zu einer strategischen Partnerschaft?
Wenn man strategisch als wirtschaftlich begreift, würde ich die Frage bejahen. Für eine strategische Allianz im Sinne eines Militärbündnisses gibt es jedoch weder die Möglichkeit noch den Wunsch Indiens, das überhaupt keine strategische Militärbeziehung mit irgendeinem Land hat.
Wie wirkt sich die neue indisch-amerikanische Freundschaft auf Indiens Verhältnis zum Nachbarn China aus?
Unser Verhältnis zu China hat sich seit dem Indien-Besuch von Präsident Jiang Zemin 1996 verbessert. Die Grenze ist ruhig, eine gemeinsame Arbeitsgruppe trifft sich, es gibt einen politischen Austausch, der Handel wächst.
China hält aber immer noch das Gebiet Aksaichin besetzt, das zum indischen Ladakh gehört.
Wir geben unseren Anspruch nicht auf. Die gemeinsame Arbeitsgruppe arbeitet ein faires Abkommen aus, das auf historischen Realitäten beruhen soll.
Mit der Gujral-Doktrin wollten Sie das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan verbessern. Aber der letztjährige Konflikt bei Kargil im indischen Teil Kaschmirs hat dies erschwert. Hat Ihre Doktrin noch eine Chance?
Die Gujral-Doktrin formuliert unsere Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs neu und kann nicht auf die Beziehungen zu Pakistan reduziert werden. So hat sich unser Verhältnis zu Bangladesch, Nepal und Sri Lanka seitdem gewandelt. Wir bewegen uns auf eine südasiatische Freihandelszone zu. Für das indisch-pakistanische Verhältnis gibt es nur eine Option, deshalb sehen wir positiv in die Zukunft. Leider steckt Pakistan in einer durch den Putsch verstärkten Krise. Die dortige Situation ist temporär, denn letztlich werden die Pakistaner eine demokratisch gewählte Regierung haben wollen.
Pakistans Militär blieb immer lange an der Macht. Warum sollte es jetzt nicht so sein?
Die Welt hat sich stark gewandelt. Pakistans Militärregime hat sich weltweit isoliert. Einstimmig wird gefordert, die Demokratie wieder herzustellen. Es ist Sache der Pakistaner, wen sie wählen, aber Wahlen und Demokratie müssen sein. Die jetzige Desillusionierung, die der Putsch verdeutlichte, richtet sich gegen die damalige Regierung und nicht gegen das demokratische System. Die Stärkung der südasiatischen Kooperation kehrt mit einer gewählten Regierung in Pakistan wieder. General Musharraf versprach ein Ende der Wirtschaftkrise, der Korruption und dass er Kaschmir bekommt. Doch die Bevölkerung ist vollständig enttäuscht worden. Deshalb greift die Armee heute mehr auf terroristische Mittel zurück. Wir verlangen von Pakistan ein Ende von Gewalt und Terrorismus. Nur dann können die Gespräche wieder aufgenommen werden.
Interview: RAJVINDER SINGH
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