: Schule vor Gericht
Die antiautoritären Unterrichtsmethoden des britischen Pädagogen Alexander Sutherland Neill haben ganze Lehrergenerationen geprägt. Unumstritten war das Konzept „Lernen ohne Zwang“ nie. Nun entscheidet ein britisches Gericht, ob Neills berühmte Schulein Suffolk geschlossen wird. Droht das Aus für Summerhill?
von RALF SOTSCHECK
Es gab Zeiten, da stand das Buch in jedem Wohngemeinschaftsregal: „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ von Alexander Sutherland Neill. Allein in Deutschland wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Summerhill, Neills Schule in der ostenglischen Grafschaft Suffolk, wo er seine Theorie in die Praxis umsetzte, war zum Mythos geworden, angehende Pädagogen kamen aus aller Welt herbei, um die Republik der Kinder zu bestaunen. Das war Ende der Sechzigerjahre.
Später, in den Achtzigern, wurde es still um die Schule, sie machte nur noch Schlagzeilen, wenn sie mal wieder von einer Zwangsschließung bedroht war. Jetzt, 79 Jahre nach Gründung der Einrichtung, ist es erneut so weit; diesmal meint es das Amt für Erziehungswesen ernst. Im vorigen Jahr kamen acht Inspektoren und machten Auflagen. Die aber kann und will die Schule nicht erfüllen, weil sie an Neills Grundprinzip rütteln, das besagt: Kinder lernen nur, was sie wollen und wann sie wollen – und wenn sie nicht wollen, kann kein Lehrer sie zwingen, am Unterricht teilzunehmen.
Man könnte die Ortschaft Leiston nördlich von Ipswich idyllisch nennen, wenn da nicht der unfallträchtige Atommeiler Sizewell am Ortsrand wäre. In einer Seitenstraße steht, unscheinbar auf einer niedrigen Begrenzungsmauer, das Wort „Summerhill“. Biegt man in die Einfahrt ein, ist man in einer anderen Welt, in der die Kinder bestimmen, ob man das Schulhaus betreten darf, ein verwinkeltes viktorianisches Herrenhaus zwischen alten Bäumen. Auf dem fünf Hektar großen Gelände gibt es Hütten aus Fertigbauteilen als Klassenzimmer, zerbeulte Wohnwagen für die Lehrer und ein Schwimmbad. Vor dem Hauptgebäude fahren ein paar ältere Schüler auf Rollerblades eine Rampe auf und ab. Es ist Vormittag, mitten in der Woche, doch der Stundenplan ist nur für die Lehrer verbindlich.
Maya Mahn aus dem Hunsrück ist Hausmutter, sie kümmert sich um die Zehn- bis Dreizehnjährigen, die in Vierbettzimmern schlafen. Nur die Ältesten haben kleine Einzelzimmer. Maya trägt einen Trainingsanzug, Turnschuhe und um den Hals eine Kette mit einem großen Medaillon. Ihre schulterlangen, braunen Haare hat sie mit einer Spange nach hinten gesteckt, die Sonnenbrille nach oben geschoben. Maya ist 21, von 1992 bis 1994 war sie selbst Schülerin in Summerhill. Hat sich die Schule in den sechs Jahren verändert? „Früher hatten wir alte, doppelstöckige Armeebetten“, sagt sie. „Jetzt gibt es moderne Holzbetten, neue Fußböden, Brandschutzwände und viel mehr Toiletten. Aber inhaltlich ist alles beim Alten geblieben, und das ist gut so.“
Maya denkt mit Schaudern an ihre Schulzeit in Deutschland. „Mathe war mir ein Gräuel“, erzählt sie. „Als ich nach Summerhill kam, habe ich acht Wochen lang an keiner Mathestunde teilgenommen. Dann schaute ich probehalber mal rein und blieb. Ich merkte, dass es nie Mathe gewesen war, was mich gestört hatte, sondern die Art und Weise, wie man sie mir beibringen wollte.“ Maya bekam ihren Realschulabschluss, dann ging sie nach Idar-Oberstein und machte Abitur. „In Deutschland war es schwierig mit meinen Mitschülern“, erzählt sie, „sie waren viel orientierungsloser als ich. Außer Disko und Kino hatten sie kaum Interessen. Fachlich hatte ich keine Probleme.“
Der Glaube, dass in Summerhill zufriedene Versager herangezogen werden, ist weit verbreitet, aber falsch. Die Realschulabschlüsse liegen deutlich über dem Landesdurchschnitt. „Unter unseren ehemaligen Schülern sind Ärzte, Anwälte, Künstler und ein Mathematikprofessor“, zählt Zoe Redhead auf, die Direktorin. Die 44-Jährige ist die Tochter von Alexander Sutherland Neill und seiner Frau Ena. Sie verließ Summerhill nach ihrer Schulzeit und leitete eine Reitschule, bevor sie 1985 zurückkehrte, um das Lebenswerk ihrer Eltern fortzuführen.Rund die Hälfte der 62 Schüler sind britisch, die anderen kommen aus Deutschland, Korea und vor allem Japan. „Die asiatische Wirtschaftskrise und die starke britische Währung haben uns zu schaffen gemacht“, sagt Redhead, „die Japaner können sich das Schulgeld nicht mehr leisten. Deshalb ist unsere Schülerzahl zur Zeit recht niedrig.“ 6.500 Pfund beträgt es im Jahr, für Tagesschüler aus Leiston ist es wesentlich niedriger.
In der dunkel getäfelten Eingangshalle sind 250 Regeln an das Notizbrett geschlagen. Alkohol ist in der Schule verboten, Zigaretten sind erlaubt. Wenn es regnet, darf man nicht auf die große Buche vor dem Schulhaus klettern. Und wer in den Ort geht, muss seine Holzmarke an die Meldetafel am Café hängen. Die Regeln werden von Kindern und Erwachsenen gemeinsam aufgestellt, sie können jederzeit verändert werden. Einmal in der Woche treffen sich alle zur Vollversammlung in der Eingangshalle, beim Vorsitz wechseln sich die Kinder ab.
Bei den Treffen werden Pflichten wie Küchendienst verteilt oder Beschwerden über Mitbewohner vorgebracht. Der Vorsitzende entscheidet über das Strafmaß, das von Puddingentzug bis hin zum vorübergehenden Schulverweis reicht. Jeder hat eine Stimme, das Wort eines Erstklässlers zählt genauso viel wie das der Direktorin. Vor ein paar Jahren wurden alle Regeln abgeschafft, doch am Ende stimmten die Kinder dafür, sie wieder einzuführen.
Die Inspektoren Ihrer Majestät hatten schon immer ein besonderes Interesse an der Schule, deren Philosophie ihnen so fremd ist. 1949 beschrieben sie Summerhill noch als „faszinierend und wertvoll“. In den Neunzigerjahren änderte sich der Ton; dazu trug ein Dokumentarfilm von Channel 4 bei. Darin waren Kinder zu sehen, die ein Karnickel jagten und es mit einer Machete köpften. Ältere Schüler und Schülerinnen badeten im Film gemeinsam nackt im schuleigenen Pool, was die Fantasie der Boulevardblätter beflügelte.
Das war schon in den Fünfzigerjahren so. Angela Neustatter, die damals Summerhill besuchte, sagt: „Boulevardreporter kamen regelmäßig in die Schule und boten uns ein Pfund, wenn wir ihnen die Geschichten auftischten, die sie hören wollten. Wir sollten erzählen, die Lehrer würden uns zu Sexorgien auf der Wiese vor dem Haus einladen. Wir sollten zusammen im Badezimmer für ein Foto posieren und sagen, dass wir scharf aufeinander seien.“
Die Schikanen der Behörden haben zugenommen, sagt Direktorin Redhead: „In den letzten Jahren sind sie aggressiver geworden – seit Labour die Parole „Bildung! Bildung! Bildung!“ ausgegeben hat. Die Inspektoren machten Auflagen zum Zustand der Gebäude. Die geforderten Reparaturarbeiten wurden durchgeführt, und die Sozialbehörde hatte bei ihrer letzten Untersuchung nichts zu beanstanden.
Doch im vorigen Mai kamen acht Inspektoren, und ihnen ging es nicht mehr um baufällige Klassenzimmer, sondern um Summerhills Prinzipien. In ihrem Bericht ließ die Kommission kein gutes Haar an der Schule. Der oberste Schulinspektor Chris Woodhead will Summerhill schließen. Am vorigen Montag begann die Einspruchsverhandlung vor dem unabhängigen Schultribunal in London. Das Urteil wird in sechs bis acht Wochen gefällt.
Was die Inspektoren vor allem bemängeln, ist die freiwillige Unterrichtsteilnahme. Das würde zum Schwänzen einladen, die Bildung der Schüler sei nicht gewährleistet. Einige Schüler hätten seit zwei Jahren an keiner Mathematikstunde mehr teilgenommen. „Es ist möglich, dass ein Schüler gegenüber seinen Altersgenossen an anderen Schulen zurückfällt“, räumt Redhead ein, „aber man muss die Bildungsleiter ja nicht Stufe für Stufe erklimmen. Er holt das eben später wieder auf.“
Ein anderer Vorwurf betraf die Toiletten, die nicht nach Geschlechtern getrennt sind. „Wir sind eine Familie“, sagt Redhead, „und in einer Familie gibt es keine getrennten Toiletten.“ Im Übrigen hätten die Inspektoren gar nicht mit den Kindern gesprochen. Eine unabhängige Kommission hingegen befasste sich im Januar eingehend mit den Schülerinnen und Schülern; der Bericht, der dem Tribunal vorgelegt wurde, fiel überaus positiv aus.
Unterstützung bekommt Summerhill von vielen Abgeordneten und Oberhauslords. Sogar die demokratische Bildungsbewegung in Russland schrieb in einem Brief an das britische Bildungsministerium, die unabhängige Schule sei ein „Bollwerk gegen totalitäre Bildungspolitik“. Maya findet das auch. Sie ringt nach Worten. „Es wäre unglaublich, wenn sie die Schule dichtmachten. Warum sollen wir uns anpassen? Das staatliche britische Schulsystem ist doch alles andere als vorbildlich.“
RALF SOTSCHECK, 45, lebt seit 1985 als taz-Korrespondent in Dublin
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