„Der Aufbau Ost ist Verfassungsauftrag“

Die finanzielle Hilfe aus dem Westen darf jetzt nicht geringer werden,sagt Wolfgang Gerhards. Er ist Finanzminister von Sachsen-Anhalt

taz: Was würde es für Sachsen-Anhalt bedeuten, wenn die Verhandlungen zum Solidarpakt II scheitern?

Wolfgang Gerhards: Das hieße für uns dasselbe wie für jedes andere ostdeutsche Land: Wir wären nicht mehr zahlungs-, geschweige denn handlungsfähig. Ohne die Transfers ist auf absehbare Zeit keines der neuen Bundesländer lebensfähig.

Der Solidarpakt wurde 1993 mit dem Ziel geschaffen, den wirtschaftlichen Aufholprozess zu finanzieren. Zwar hat sich die Infrastruktur erheblich verbessert, die Wirtschaftsdaten sind aber so schlecht wie 1993. Ist der Solidarpakt das falsche Instrument?

Die Strukturlücke wurde bei weitem nicht so geschlossen, wie wir uns das 1993 vorgenommen haben. Nach wie vor verzeichnen die ostdeutschen Länder massive Verluste bei der wirtschaftsnahen Infrastruktur – also bei Straßen, Umschlagplätzen, Eisenbahntrassen. Und wir haben Riesenprobleme, eine gleichwertige Forschungs- und Ausbildungslandschaft zu etablieren. Es gibt Untersuchungen mit dem Schluss, dass die Lücke zum Westen trotz der Transfers größer statt kleiner geworden ist. Wirtschaftsinstitute haben objektive Daten gesammelt, die den weiteren Finanzbedarf für die Ost-Infrastruktur mit einem dreistelligen Milliardenbetrag beziffern.

Wie lange muss der neue Solidarpakt laufen?

Wir werden ihn noch wenigstens für ein Jahrzehnt brauchen. Das muss nicht bedeuten, dass zehn Jahre lang Mittel in gleicher Höhe fließen. Varianten sind denkbar: z. B. zehn Jahre Laufzeit mit degressiver Finanzausstattung oder eine Überprüfungsklausel nach fünf Jahren stabiler Ausstattung.

Hunderte von Milliarden Mark haben die Westdeutschen in den vergangenen Jahren bereits für den Aufbau Ost aufgebracht. Warum soll das so weitergehen?

Weil das Verfassungsauftrag ist. Das Grundgesetz sagt: Die Gleichheit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik muss gesichert werden.

Stehen die Ostdeutschen, wenn der Solidarpakt II ausläuft, endlich auf eigenen Füßen?

Ich bin mit Prognosen vorsichtig. 1993 dachten alle: Mit diesen Mitteln ist das Ding in zehn Jahren gelaufen. Eingetreten ist das Gegenteil. Die Entwicklung im Osten ist trotz des Geldes sehr viel langsamer verlaufen, die Lücken sind in einigen Bereichen sogar größer geworden.

Es gibt immer wieder Verschwendungsvorwürfe aus dem Westen. Welche Kontrollmechanismen könnten helfen, diesen Vorwürfen zu begegnen?

Die Frage würde ich gern an die Kritiker zurückgeben.

Sind die Vorwürfe denn so falsch?

In den ersten Jahren ist sicher Geld auch in falsche Kanäle gelaufen. Aber das ist vorbei. Es gibt heute nichts mehr, was den Vorwurf rechtfertigt. Bei manchen Argumenten kann ich mir nur an den Kopf fassen. Offenbar glauben noch immer führende Politiker im Westen, dass wir uns nicht um Industrieansiedlung kümmern würden. Nach dem Motto: Das Geld kommt doch über den Finanzausgleich automatisch rein. Kompletter Unsinn: Wir kommen nur auf die Füße, wenn wir Jobs und Perspektiven für die Menschen hier schaffen.

Sonderabschreibungen, Investitionsförderungsgesetze, Fördermittel, nicht einmal die niedrigen Löhne im Osten führten zu einem positivem Investitionsklima. Brauchen wir neue Instrumente?

Stimmt denn die Behauptung? Wir wissen doch nicht, wie es in Ostdeutschland heute aussehen würde ohne diese Instrumentarien. Es ist sehr schwierig, hier Wirtschaftszweige zu etablieren, die auf Dauer tragen. In den ersten Jahren hat man versucht, industrielle Schwerpunkte – die berühmten Leuchttürme – zu erhalten. Die Zeiten sind vorbei. Wir können heute weder die notwendigen Fördermittel dafür aufbringen, noch hat die Strategie überall richtig funktioniert.

Müsste man nicht sagen: Sie hat nur selten funktioniert?

Nicht wenn wir über ausländische Unternehmen reden, die gekommen sind, um von hier aus Märkte in Osteuropa zu erobern. Was deutsche Unternehmen betrifft, stimmt das sicherlich zum Teil. Manche sind gekommen, um Fördergelder abzufassen, und später, als die Programme ausliefen, machten sie den Standort dicht. Heute versuchen wir verstärkt, mit einer kleinteiligen Förderung für den Mittelstand zum Erfolg zu kommen. Was anderes bleibt uns gar nicht übrig. Es gibt keine Großindustrie mehr, in der etwas gehen könnte. Interview: NICK REIMER