: Weltweit verteilte Festplatten
Mit dem Hackerprogramm „Gnutella“ wird jeder PC zum Server für kostenlose Musik, Bilder und Videos
von ERIK MOELLER
Die Musikindustrie kämpft noch heftig gegen den „Napster“, das überaus beliebte Suchprogramm für MP3-Dateien. Aber schon ist der nächste Gegner im Anmarsch. Ausgerechnet Nullsoft, Hersteller des legendären MP3-Players „Winamp“, stellte eine Vorab-Version des kostenlosen und gerade mal 100 Kilobyte großen Progrämmchens „Gnutella“ ins Netz.
Schon die Herkunft des Hackerwerkzeugs ist brisant: Nullsoft ist im Juni vergangenen Jahres vom Onlinedienst AOL übernommen worden, zu dem heute der Medienkonzern Time Warner gehört, der wiederum mit EMI zum größten Musikkonzern der Welt fusionieren will.
Beim MP3-Player „Winamp“ hinterließ die Übernahme durch AOL ihre Spuren. Die neueren Versionen haben wenig bekannte (aber abschaltbare) Funktionen eingebaut, um die Hörgewohnheiten der Benutzer auszuspionieren. Das Programm nistet sich standardmäßig dauerhaft im Betriebssystem ein und stellt bei jedem Start eine Verbindung zum Nullsoft-Server her (wen's stört: im Programm „Options:Preferences:Setup:Check for new versions of Winamp at startup“, „Allow Winamp to report . . .“ sowie „Agent:Enable Winamp agent“ abstellen).
Doch mit Gnutella offenbarten die Nullsoft-Programmierer, dass sie im Grunde ihres Herzens noch die alten Revolutionäre der „Free Music“ sind. Ähnlich wie bei Napster schließen sich die Benutzer auch hier zu einer Tauschgemeinschaft für Daten zusammen. Jeder Benutzer legt fest, welche Dateien er freischalten will. In der Liste gemeinsamer Dateien lässt sich suchen und das Gewünschte herunterladen.
Anders als mit Napster ist es mit Gnutella möglich, nach allen Dateitypen zu suchen, nicht nur nach MP3-Dateien. So findet man auf den weltweit verteilten Festplatten der Gnutella-Gemeinde auch riesige Videodateien, darunter neue und alte Kinohits wie „American Beauty“, „Three Kings“ und „Titanic“. Daneben tümmeln sich Pornos und illegale Kopien teurer Softwarepakete. Die Suchfunktion erlaubt es, zu überprüfen, wer gerade nach welchen Dateien sucht – wenig überraschend nimmt die Suche nach Pornos den ersten Platz ein.
Noch wichtiger aber ist, dass Gnutella nicht mehr auf einen zentralen Server zugreifen muss. Napster stellt nach jedem Start eine Verbindung mit einem Rechner der Herstellerfirma in den USA her, der als eine Art Telefonbuch für MP3-Musik dient. Sollte das angestrengte Verfahren der Musikindustrie gegen die Betreiber dieses Servers Erfolg haben, wäre der rege MP3-Tausch vorerst beendet. Gnutella dagegen funktioniert auf der Basis von dezentralen Tauschringen. Man benötigt lediglich die Internetadresse eines Mitglieds dieses Tauschrings (die man zum Beispiel im IRC-Chat findet) und ist im Handumdrehen mit hunderten von Usern verbunden. Schon heute stellen sie insgesamt gut 600 Gigabyte an Daten zur Verfügung.
Gnutella ist anarchistisch wie das Netz und verteilt sich über die gesamte Bandbreite. Eine Art revolutionärer virtueller Brotaufstrich. Angreifbar ist das System kaum, es sei denn, man geht mit drakonischen Maßnahmen gegen alle seine User vor.
Das Programm dürfte auch Administratoren mancher Universitäten einigen Ärger machen, die schon die Verbindungen zu den Napster-Servern kurzerhand gekappt hatten. Bei Gnutella gibt es jedoch keinen einzelnen Server mehr, die Adressen der Benutzer fluktuieren ständig. Auch der Internet-Port, über den die Daten übertragen werden, kann angepasst werden. Man kann also lediglich versuchen, die Programminstallation selbst zu verhindern. Doch wenn das Programm im Quellcode zur Verfügung steht, kann jeder Benutzer seine eigene Version basteln und so die Sperren umgehen.
Nullsoft hat diesen Profitkiller ohne Wissen der AOL-Geldgeber entwickelt. Auf einer kleinen Website wurden Beta-Versionen wenigen Interessierten zum Download angeboten. Noch ist die Software unausgereift. Hacker lähmten über Tage hinweg den Gnutella-Tauschring mit tausenden von sinnlosen Suchanfragen. Auch die Programmoberfläche ist sehr gewöhnungsbedürftig, und wichtige Funktionen, wie die Verwendung von komplexen Suchmustern, fehlen völlig.
Die Programmierer versprachen, mit der endgültigen Version auch den Quellcode freizugeben. Als aber „Slashdot“, der Onlinenachrichtendienst für Linux und andere Projekte der Bewegung für freie Software (www.slashdot.org), davon berichtete, stürmten tausende auf die Website und testeten schon die Beta-Version auf Herz und Nieren. Und nur wenige Tage später gab der Server nur noch die Auskunft: „temporarily down. come back later.“
Jetzt hatte auch AOL von den Aktivitäten der Nullsoft-Programmierer Wind bekommen und war davon wenig angetan. „Gnutella ist ein unautorisiertes Projekt, und die Website, die den Zugang zu der Software erlaubte, ist vom Netz genommen worden“, sagt Josh Felser, Winamp-Abteilungsleiter bei AOL.
Zu spät. Innerhalb weniger Stunden war Gnutella auf Dutzenden Websites gespiegelt (eine Übersicht bietet gnutella.nerdherd.net/). Freaks nahmen sich des zur Dateiübertragung verwandten Protokolls an, entwickelten im Schnellverfahren erste Klone der Software, obwohl der Quellcode des Originals noch nicht zur Verfügung steht.
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