: Bürger auf sicherem Boden
von BETTINA GAUS
Vielleicht hat auch Friedrich Merz irgendwann einmal mit Dämonen gekämpft. Möglicherweise hat er sogar einmal eine Situation erlebt, in der ihn Zweifel beschlichen haben. An irgendetwas. Immerhin ist der Mann 44 Jahre alt. Es ist nicht auszuschließen, dass er in seinem Leben schon einmal ratlos gewesen ist. Aber es ist sehr schwer vorstellbar. Wer dem neuen Fraktionsvorsitzenden der Union begegnet, trifft auf jemanden, dem die Sehnsucht nach der heilen Welt unbegreiflich zu sein scheint. Die Welt ist doch heil.
Es gibt heute nicht mehr viele Leute, deren Leben so wenige äußere Brüche aufweist wie die Biographie von Friedrich Merz. Eins fügt sich bei ihm ins andere. Im sauerländischen Brilon ist er aufgewachsen, wo die Familie der Mutter zu den lokalen Patriziern zählte: „Brilon in der siebten Generation.“ Der Großvater war Bürgermeister, der Vater, ein CDU-Kreisvorsitzender, Richter am Arnsberger Amtsgericht. Auch Friedrich Merz wurde Jurist. Seine Ehefrau, Mutter der drei gemeinsamen Kinder im Alter zwischen achtzehn und zehn Jahren, ist heute als Richterin an demselben Ort tätig wie einst ihr Schwiegervater. „Unverändert schön“ findet Merz das Kleinstadtleben, das ihn geprägt hat. Er hängt an der alten Heimat und bedauert, heute nur noch „viel zu selten“ nach Brilon fahren zu können: „Fünf-bis zehnmal im Jahr.“
An Friedrich Merz’ Wiege müssen viele Feen gestanden haben
Es gibt viele Dinge, die im Leben Spaß machen. Auch die Politik: „Sonst würde ich’s nicht machen.“ In einer Zeit, in der viele Politiker die Öffentlichkeit gerne mit der schweren Bürde ihres Amtes belästigen, wirkt eine derartige Selbstverständlichkeit erfrischend. Das weiß Friedrich Merz. Er hat ein feines Gespür dafür, welche Sätze bei welcher Gelegenheit angebracht sind, und er kann seine Worte durchaus wägen. Die Opposition werde ihren Auftrag „auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesregierung“ wahrnehmen, hat er am 18. Februar im Bundestag gesagt – und sich vorher lange überlegt, ob er diese Formulierung benutzen darf. Friedrich Merz ist 1,98 Meter groß. Sein Vorgänger und Mentor Wolfgang Schäuble sitzt im Rollstuhl. Geht da so ein Satz? Ja, entschied er. Immerhin wolle Schäuble selbst am liebsten, dass man „ganz normal“ mit ihm umgehe. Was Merz nicht sagt: Die Zeit von Wolfgang Schäuble ist vorbei.
An der Wiege seines Nachfolgers müssen viele gute Feen gestanden haben. Er verfügt über jungenhaften Charme, er sieht gut aus, hat nette Umgangsformen, ist intelligent und kann sogar witzig sein. So sicher und gewandt wie er tritt nur einer auf, der stets glauben durfte, dass dort, wo er steht, oben ist. 1975 hat Merz sein Abitur gemacht, wenige Jahre nach der Studentenrevolution.
Und die Linke hat ihn wirklich niemals fasziniert? Nie wollte er denjenigen nacheifern, die ein paar Jahre älter waren und die Welt neu zu erfinden vorgaben? Nein. „Politisch bin ich mit denen nie auf einer Wellenlänge gewesen. Ich habe immer gesagt, die spinnen.“ Ganz kurze Pause. „Der Meinung bin ich heute immer noch.“ Was die damals so geredet hätten. „Verstaatlichung der Schlüsselindustrien.“ Er schüttelt den Kopf, fassungslos heute wie damals. Einmal, ein einziges Mal, hat er den Eltern angedroht, zum politischen Frühschoppen der Jusos zu gehen. „Um den Vater zu ärgern.“ Mit dem hatte sich der Jugendliche an jenem Tag gestritten. Ob er den Vorsatz in die Tat umgesetzt hat, weiß Merz heute nicht mehr.
Bei vielen Konservativen, vor allem aus der älteren Generation, ist Abscheu, fast Hass spürbar, wenn sie von den politischen Gegnern sprechen. Bei Friedrich Merz nicht. Nur nüchterne, distanzierte Verständnislosigkeit. So sicher scheint er sich des eigenen Weltbildes zu sein, dass es nicht einmal zur Aggression denen gegenüber reicht, die es nicht teilen. Er braucht sein Wertesystem nicht als Stütze. Es ist einfach da. Das Bildungsbürgertum ist Maßstab und Grundlage seiner Existenz.
Sicher ist sich Merz nicht nur hinsichtlich seines Blicks auf die Welt. Zweifel befallen ihn auch nicht, wenn er über andere spricht.
Joschka Fischer? „Was in dessen Kopf vorgeht, ist mir schleierhaft. Der benimmt sich wie ein vordemokratischer Provinzfürst. Völlig abgehoben.“ Wieder einmal schüttelt er den Kopf. Diese Prinzipienlosigkeit sei „doch unglaublich“.
Oskar Lafontaine? „Ein Mann mit erheblichen charakterlichen Mängeln, an der Grenze dessen, was man noch einen Demokraten nennen kann.“
Gerhard Schröder? „Dieses schon mechanische Grinsen auf dem Weg zu einem Ort, wo noch ungeborgene Leichen liegen“, sagt Merz im Blick auf die Reise des Kanzlers zur Stätte des Zugunglücks in Brühl.
Allerdings gibt es aus seiner Sicht in den Regierungsfraktionen durchaus auch „honorige Leute.“ Otto Schily etwa und vermutlich auch Rezzo Schlauch.
Jemanden wie Merz müsste die CDU sich in Kunstharz gießen: Einen aus ihren eigenen Reihen, der in diesen Tagen andere am Kriterium der Honorigkeit misst und dem man darob nicht ins Gesicht lachen möchte. Niemand hat Friedrich Merz je unterstellt, von den illegalen Finanzpraktiken seiner Partei gewusst zu haben oder gar Teil des Systems Kohl gewesen zu sein. Zum ehemaligen Kanzler hat er stets Distanz gehalten: „Deswegen war es für mich nie nötig, dass ich jetzt vom Schoß runterhüpfe und den Helden spiele.“ Es gibt nicht so arg viele in der Union, denen man diese Sätze abzunehmen bereit wäre. Merz gehört zu dieser kleinen Gruppe.
Vielleicht kann nur einer Veränderungen wagen, der sich so sicher und unbeirrt auf festem Boden weiß. Friedrich Merz hat erkennbar Lust, Neues auszuprobieren. Eine ganze Stunde hat sich der Fraktionschef Zeit genommen für einen Live-Chat bei einem Internet-Sender. Internet ist das Medium der Zukunft. Allerdings gibt es mit der Zukunft ein Problem: Sie ist halt nicht die Gegenwart. Die Fragen tröpfeln eher langsam ein. Und wenn gar keine mehr kommen? „Dann essen wir die Schokolade auf und fahren zurück ins Büro“, sagt Merz. Von so etwas lässt er sich die gute Laune nicht verderben.
Manchen seiner Parteifreunde dürfte schwindlig werden
Von den Fragen, die ihm schließlich gestellt werden, auch nicht. Ob Helmut Kohl ähnlich gut aus dem Spendenskandal herauskommen werde wie US-Präsident Bill Clinton aus der Lewinsky-Affäre. Friedrich Merz diktiert die Antwort, ohne zu zögern: „Bei aller Unvergleichbarkeit: Ich weiß es nicht. Punkt. Ab.“ Er grinst. Wie sind Sie bei der CDU gelandet? „1972 während des Wahlkampfs gegen die Ostpolitik unter Willy Brandt.“ Und weg. Dann will jemand seine Meinung zur Elefantenhochzeit der Großbanken wissen. Die Frage gefällt ihm. Hier ist der langjährige Finanzexperte auf sicherem Terrain. „Fusionen sind für sich genommen nicht falsch“, beginnt er und diktiert sehr lange weiter. Bis schließlich die Moderatorin fragt: „Können Sie abschicken? Oder kommt noch was?“ Friedrich Merz muss erst noch lernen, für andere Themen dasselbe Interesse aufzubringen wie für sein Spezialgebiet.
Er lernt schnell.
Manchen seiner Parteifreunde dürfte schwindlig werden bei dem Tempo, das er vorlegt. Noch sitzt der neue Chef in seinem alten, kleinen Büro, noch weist ihn das Schild an der Tür lediglich als stellvertretenden Vorsitzenden aus. Der Umzug in die größeren Räume soll erst in diesen Tagen stattfinden. Mit der Einführung neuer Töne hat sich Merz weniger Zeit gelassen. „Wir hätten auch 1990 die Wahlen nicht gewonnen, wenn die deutsche Einheit nicht gekommen wäre.“ Noch vor wenigen Monaten wäre es Häresie gewesen, hätte ein Unionspolitiker diese Einsicht freimütig kundgetan. Merz äußert sie nüchtern und ohne erkennbare Emotion, ganz so, als spreche er über ein mehrere Jahrhunderte zurückliegendes Ereignis. Und dann: „Bei uns in der Partei begreifen erst jetzt viele, dass wir mit unserer Politik die Probleme auch nicht langfristig gelöst hätten.“ Mit einem einzigen, scheinbar beiläufigen Satz wischt der neue Fraktionsvorsitzende mal eben das Renten- und das Gesundheitssystem vom Tisch, für dessen Erhalt auch die CDU lange gefochten hat: „Wir müssen über einen völlig neuen Generationenvertrag reden.“
Da spricht einer aus einer neuen Generation.
Gegen Merz sehen Fischer und Schröder auf einmal alt aus
Die deutsche Öffentlichkeit ist daran gewöhnt, von alten Männern regiert zu werden. So konnten Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf der Regierungsbank als Vertreter der Jugend erscheinen – in einem Alter, in dem andere Arbeitnehmer beginnen, die Jahre bis zum Vorruhestand auszurechnen. Von einem Tag auf den anderen sehen sie alt aus. Die designierte neue Parteivorsitzende Angela Merkel und der neue Fraktionschef Friedrich Merz müssen es nicht eilig haben. Sie haben viel Zeit.
Als Traumkombination mögen die beiden vielen derjenigen in der CDU erscheinen, die in den letzten Jahren an der Erstarrung ihrer Partei gelitten haben. Sie ergänzen sich auf wunderbare Weise: Ein Mann und eine Frau, ein Katholik und eine Protestantin, ein gradliniger Lebenslauf und eine Biographie voller Umwege und schmerzhafter Erfahrungen. Ausgerechnet die Basis hat eine Doppelspitze gekürt, die kein Parteistratege am Reißbrett idealtypischer hätte ersinnen können.
Sie stößt dennoch nicht überall auf jubelnde Begeisterung. Vor allem aus den Reihen der CSU waren Vorbehalte gegen die ostdeutsche Politikerin zunächst unüberhörbar gewesen. Bis Friedrich Merz die Sache in die Hand nahm. Er habe dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber gesagt, dass der sich „auch selbst einen Gefallen“ tue, wenn er aufhöre, sich in die Diskussion um den CDU-Vorsitz einzumischen, erzählt der Fraktionschef. „Danach ist ja sehr schnell Ruhe gewesen in dem Bereich.“
Friedrich Merz plaudert so freundlich und unverkrampft, dass erst beim zweiten Hinhören deutlich wird, wie unmissverständlich da einer seinen Führungsanspruch anmeldet. Die CDU habe künftig zwei Machtzentren, heißt es in diesen Tagen. Wie man’s nimmt. Der Fraktionschef ist der Gegenspieler des Bundeskanzlers im Parlament. Bei den großen Debatten wird er die Reden halten, die vom Fernsehen übertragen werden. Angela Merkel ist weder Ministerpräsidentin noch sitzt sie im Fraktionsvorstand. Sie kann gelegentlich eine Pressekonferenz geben. Die Gewichte sind ungleich verteilt.
Der Fraktionsvorsitzende sieht darin verständlicherweise kein Problem. Er verstehe sich „persönlich sehr gut“ mit der künftigen Parteichefin. Beide hätten die Absicht, es nicht zum Konflikt kommen zu lassen. „Wir haben derartig viele Probleme zu lösen, dass in der gegenwärtigen Konstellation damit vermutlich einer allein nicht fertig werden würde.“ Dass der Oppositionsführer vermutlich mehr wahrgenommen wird als die Parteivorsitzende, räumt Friedrich Merz allerdings auch ein.
Beiläufig.
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