Zauber der Nachkriegszeit

Großes politisches Unterhaltungstheater: Jossi Wieler inszeniert im Schauspielhaus Tankred Dorsts „Merlin“  ■ Von Ralf Poerschke

Merlin (Michael Wittenborn) beherrscht einige tolle Tricks. Lediglich mit Hilfe eines Mikrofons und eines Effektgerätes erzeugt sein Mund ein imposantes Schlachtengewitter im Zweiten Weltkrieg. Durch zweimaliges Fingerschnippen wird es Nacht und sogleich wieder Tag. Wie von Geisterhand wird dem Nazi-General die Pistole aus der Hand geschlagen. Und ein Nylon-Strumpf wandert auf magische Weise aus der Jackentasche des GIs Bob in die seine. Merlins eigentliche Qualität jedoch ist die des Entertainers und Conférenciers. Oder noch treffender, da er hier ja die Strippen zieht: des Eventmanagers. Projekt: Aufbau des Artusreiches, Gralssuche, Systemzerstörung.

Der wirkliche Zauberer an dem sicherlich besten Schauspielhauspremierenabend dieses Jahres ist allerdings Jossi Wieler. Dem Regisseur gelingt das Wunderding, Tankred Dorsts Mammutdrama Merlin oder Das wüste Land mit größtzuträglicher Exaktheit an der deutschen Nachkriegsgeschichte entlangzuführen. Natürlich erzählt Dorst in seinem zwischen 1978 und 1981 entstandenen Text keine mittelalterlich getünchten Fabeln, sondern unternimmt anhand des mythischen Ritterpersonals einen zeitgenössischen Großversuch zum Thema Utopie. Historische Verortungen, die Dorst keinesweg beabsichtigte, werfen normalerweise Probleme auf – Wieler löst sie allesamt mit stupendem Ironiespürsinn und enorm schlüssigen Bildern.

Dass etwa die Tafelrunde aus reichlich versehrten alten Männern im Anzug besteht, die zu 50er-Jahre-Tanzorchester-Musik sachte schwofen, bringt die Situation eines (halbherzigen) Neubeginns nach dem Ende einer barbarischen Zeit ziemlich genau auf den Punkt; denn von dem, was Merlin ihm an Innovativem einflüstert, begreift Artus (André Jung) kaum etwas. Rücksichtslos Instinktgesteuerte wie Parzival (Wolfgang Pregler) finden hier reiche Beute. Vernachlässigte junge Menschen wie Sir Mordred (René Dumont) wachsen in einem solchen Klima zu Terroristen heran; aus verhätschelten Exemplaren wie Sir Beauface (Thomas Mehlhorn) werden dagegen Blumenkinder.

Zu dem hirnerweichenden Phantom des Grals passen wiederum prächtig die ideologischen Verwirrungen der 80er Jahre. Sir Agrawain (Wolf Bachofner) pflegt als Dark-Waver düstere Visionen, und Sir Gawain (Roland Renner) sucht als Hare-Krishna-Jünger sein Glück. Zum Showdown treffen sich die Ritter dann im DesignerUmfeld heutigen Zuschnitts wieder, die Verbrennung von Königin Ginevra (Judith Engel) wird live im Fernsehen übertragen (Kommentar: Jo Brauner), Sir Lancelot (Max Hopp) trägt seine Schusswaffe cool im Schulterhalfter, und der halbtote Papst (Wolfgang Pregler) spricht mit polnischem Akzent.

Wieler setzt von Beginn an immer wieder auf dezenten Monty-Python-Humor (Merlins „Und nun zu etwas vollkommen anderem“-Übergänge sind eine direkte Reverenz), der oft genug im Dorst-Text bereits angelegt ist; aber der Regisseur treibt den Slapstick nie zu weit und denkt immer an die Unbeschadetheit des Autors. Ernste Szenen baut er schlicht von dem Charakter der Figuren her auf. Dafür leistet sich Wieler eine bemerkenswerte kryptische Extravagaganz, wenn nach der Ermordung von Sir Lamorak (Matthias Fuchs) und Lady Morgause (Marion Breckwoldt) durch deren Söhne eine ostasiatische Trauergemeinde auf die Bühne kommt. Vielleicht ein Hinweis auf die vielen Dorstschen Kryptizismen, die für jeden Regisseur eine Zumutung darstellen – und hier fehlen.

Die Strichfassung von Wieler und seinem Dramaturgen Tilman Raabke ist ein kleiner Geniestreich, viel Ballast ging über Bord, der Fokus liegt auf dem Komischen, nicht aber dem zu Clownesken. Viereinviertel Stunden (mit zwei Pausen) dauert die Aufführung – gut und gerne kann man Merlin jedoch auch in acht Stunden zelebrieren, wie dies Peter Zadek für die 1979 in der Hamburger Fischauktionshalle anvisierte Uraufführung vorhatte. Da man die Halle damals nicht bekam, fiel die Uraufführung aus; nichtsdestotrotz spielt der Text mit deren Möglichkeit mehrerer, parallel bespielbarer Räume. Im Schauspielhaus, zur Hamburger Erstaufführung 21 Jahre später, hat Jens Kilian in seinem architektonisch raffinierten Bühnenbild drei Guckkästen für intimere Szenen eingebaut.

Und diesem wunderbaren Ensemble – kaum mag man jemanden hervorheben – darf man jetzt schon nachtrauern (die wenigsten werden den Sommer in Hamburg überdauern). Die Gesamtleistung ist schier beeindruckend. Mit viel Liebe hat Jossi Wieler die Rollen besetzt, und die Schauspieler sind ihm die Garanten für großes politisches Unterhaltungstheater. Mehr kann man nicht wollen.

weitere Aufführungen: 4., 21., 26., 27., 30. April, 3. Mai, 19 Uhr, Schauspielhaus