: Mörder sind immer die anderen
In Orahovac belauern sich Albaner und Serben misstrauisch. Die KFOR-Truppen beschränken sich darauf, die Volksgruppen auseinander zu halten
aus OrahovacERICH RATHFELDER
Früher war der Blick hinauf zum Berg, zum serbischen Viertel der Stadt, voller Angst gewesen. Heute patrouillieren internationale Polizisten und KFOR-Truppen auf den Straßen von Orahovac und vermitteln das Gefühl von Sicherheit. Der 23-jährige Dini Sharku jedoch kommt von seinen Alpträumen nicht mehr los. Von dort oben kamen am 5. Mai 1999 die Mörder seiner Familie.
Sie erschossen die drei kleinen Kinder der Schwester, den Sohn des Bruders, ermordeten dann die Schwester und den Vater, schließlich folterten sie die Mutter, die als Goldschmiedin gearbeitet hatte. „Sie töteten sie, nachdem sie das Versteck mit dem Geld, dem Gold und den anderen Wertsachen verraten hatte.“
Morde und Vertreibungengab es auf beiden Seiten
Es war nicht das erste Mal, dass Dini ein Massaker miterlebte. Im Juli 1998 wurden mehrere hundert Albaner in der Stadt umgebracht, „zur Zeit der ersten Offensive“, wie die Leute hier sagen. Damals, so erinnert er sich, wurden die Toten in Pferdekarren zur der am Friedhof liegenden Müllkippe gebracht und dort in von Baggern ausgehobenen Löchern vergraben. Zur gleichen Zeit verschleppten im nahen Dorf Velika Hoca Albaner eine ganze serbische Sippe, Frauen, Kinder, Männer. Von den Männern fehlt seitdem jede Spur.
„Ich hatte Glück, ich konnte fliehen“, sagt Dini heute. Der schmächtige junge Mann schaffte es nach Bulgarien. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Nato-Truppen, also fast genau ein Jahr später, kam er zurück. Als Spuren der Morde waren nur die großen Blutflecken auf der Straße sichtbar geblieben. Im Oktober ist ein Tatverdächtiger gefasst und ins Gefängnis von Mitrovica eingeliefert worden. Die Ermittlungen dauern an.
Noch einmal mit Serben zusammenleben? Nie! Das steht für Dini fest. Er hat sich sein Leben wieder eingerichtet, ist aus dem Teppichgeschäft seines Bruder ausgestiegen und hat kürzlich eine Boutique eröffnet, heiter rosa und lila gestrichen. Das Wirtschaftsleben hat in der von Weinbauern und Handwerkern bewohnten Stadt wieder begonnen. Viele Kriegsschäden sind repariert.
Dini bleibt verbittert: „Ich kann nicht vergeben. Die Serben sitzen da oben und leugnen alle Taten. Sie beklagen sich, dass die KFOR aus ihrer Mitte Leute verhaftet. Sie sehen nichts ein.“
„Sie“, das sind die 2.500 Serben, die noch in einem Viertel in der 25.000 Einwohner zählenden Stadt Orahovac und dem nahen Dorf Velika Hoca wohnen. Früher, als es noch das gemeinsame Schulsystem gab, hatte er auch serbische Bekannte gehabt, man saß zusammen in der Bar, spielte zusammen Fußball oder Basketball. Orahovac war eine tolerante Stadt. Ihre Sprache ist ein Gemisch aus serbischen und aus albanischen Worten, auch türkische Einsprengsel finden sich. Jetzt nennen die Albaner die serbischen Phrasen „bulgarisch“.
Das multikulturelle Zentrum wurde zu einem Hauptangriffsziel der Nationalisten auf beiden Seiten. In kaum einer anderen Region des Kosovo haben die Menschen so viel Leid zu verarbeiten. Hier entscheidet sich, ob es zu einem Miteinander oder wenigstens zu einem geordneten Nebeneinander kommen kann.
Die albanische Mehrheitsbevölkerung, die 1998 und 1999 zweimal fliehen musste, hat durch Massaker der serbischen Soldateska hunderte Tote zu beklagen. Die Albaner zählen auf: im Dorf Velika Krusa 206 Menschen, 55 werden noch vermisst; in Pustasel 106 Tote. In anderen Dörfern zählt man zwischen 60 und 80 Opfer.
Abgeschnitten von der Außenwelt, bewacht und gesichert von rund 800 Mann starken KFOR-Truppen, leben zusammengedrängt vielleicht noch 2.500 von ehemals rund 4.000 Serben. Sie haben Angst vor Rache.
In den serbischen Enklaven herrschen Furcht und Trotz
Die Straße in die größere der Enklaven, nach Velika Hoca, führt vorbei an dem Friedhof, in dessen Nähe sich die Gräber des Mordens von 1998 befinden. Gelangweilt schieben deutsche Soldaten an einer Kreuzung Wache. Sie haben eine herrliche Sicht auf die Weinberge gegenüber, auf die schneebedeckten Berge, auf das Tal und Velika Hoca. Im Zentrum des Dorfes warten viele Menschen auf die Autos der internationalen Hilfsorganisationen. Fremde bringen ein bisschen Abwechslung.
Snesana Simić will sich nicht von der Lethargie der anderen anstecken lassen. Die kaum dreißigjährige Mitarbeiterin des serbischen Roten Kreuzes ist eine kämpferische Person. Aus Belgrad der Liebe wegen vor Jahren hierher gekommen, denkt sie nicht daran, das Dorf wieder zu verlassen. Über die Verbrechen der Serben will sie nicht sprechen. Dass nur die Serben die Schuldigen für Krieg und Auseinandersetzungen in Orahovac sein sollen, weist sie schon in den ersten Sätzen zurück. Erst einmal müsse klargestellt werden, dass beide Seiten schuldig seien. Dann könne man weiterreden.
Und sie präsentiert zwei Zeuginnen, die von Verbrechen der albanischen Untergrundtruppe UÇK berichten. Die 63-jährige Lazerka Kostić erzählt vom Verschwinden ihres Mannes, ihrer Familie. Sie ist jetzt ganz allein, verstört wie die Opfer auf der anderen Seite. Am 17. Juli 1998 – am gleichen Tag, als das Massaker an Albanern in der Stadt Orahovac begann – seien UÇK-Leute im Dorf erschienen und hätten die serbischen Häuser beschossen. Die Serben wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben, 16 Männer, darunter 14 Mitglieder der Kostić-Familie, wurden von der UÇK weggeschafft. Frauen und Kinder wurden in einem Bus zum Kloster Socisce gefahren. Nach fünf Tagen seien sie schließlich nach Priština entlassen worden. Von den Männern tauchte keiner wieder auf. Sie seien vermutlich von der UÇK ermordet worden.
Ermordet wie auch verschwundene Serben im Jahre 1999, vermutet Snesana Simić. Und sie stellt ihre Listen zur Verfügung. Aus der Stadt Orahovac selbst seien während dieser Zeit 14 Männer, drei allein von der Familie Baljomšević, verschwunden, aus dem Dorf Opterusa 8, weitere 10 Serben und Roma aus anderen Dörfern, zusammengenommen 47 Menschen. Die Schuldigen, die Mörder, seien in den Reihen der UÇK zu finden. „Die ganze regionale Führung ist darin verwickelt.“
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Alle kennen die Mörder der anderen Seite, keiner spricht von den Tätern der eigenen. Gibt es wirklich keine Zwischentöne?
Jovan Jelecić war Ende Oktober Mitglied der Delegation, die mit den Vertretern der Albaner unter Aufsicht der internationalen Verwaltung der Stadt, der Repräsentanten der Unmik und der KFOR, über Verbesserung der Lebensbedingungen und mehr Bewegungsfreiheit für die serbische Bevölkerung diskutierte. Der Mitdreißiger hat weder bei den Paramilitärs noch mit der Armee gekämpft. Er ist pragmatisch, redet nicht von Ideologien und ist auch nicht einer, der ständig die Geschichte des Amselfeldes im Munde führt. Die Albaner forderten immer wieder eine Entschuldigung für die Verbrechen der Serben. Dazu sagt er: „Aber die haben wir doch längst gegeben.“
Lippenbekenntnisse ersetzenkeine wirkliche Versöhnung
Die Albaner nahmen die Entschuldigung nicht an. „Sie müssen erklären, warum sie plötzlich auf uns geschossen haben, warum sie uns ausrotten wollten“, sagt Jahha Shehu, Spross der Shehu-Familie, die auch Oberhaupt der örtlichen Derwisch-Sekte Rufai Helveti ist. Die Derwische gelten als liberale Leute. Der Mehrheit der Bevölkerung der Altstadt gehört dieser schiitischen Bruderschaft an, die Teqe, das religiöse Zentrum, ist auch Treffpunkt in weltlichen Angelegenheiten. Am 21. Juli 1998 wurde hier das wegen seiner Weisheit gerühmte Oberhaupt der Sekte, Sheh Myhedin Shehu, von serbischen Polizisten ermordet. Der serbische Staat habe schon lange Terror ausgeübt, die Albaner mussten sich verteidigen, erklärt Shehu. „Wir wollen Frieden finden, dazu gehört aber, dass die Serben Zeichen der Versöhnung geben und ihre Kriegsverbrecher ausliefern.“
In den letzten Wochen gab es einige Bombenanschläge vor allem gegen Mitglieder der Minderheit der Gorani, serbische Muslime. Aber auch gegen das Restaurant, das Ismet Tara, dem ehemaligen UÇK-Kommandanten gehört. Alle Gruppen verurteilten die Täter öffentlich, auch die UÇK-Leute. Die wollen wie Tara selbst aber nichts von Versöhnung wissen. Sie wollen, dass die Serben das Land verlassen. Allesamt.
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