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Darf das Volk entscheiden?

Die Politik sollte ihre Bürger endlich ernst nehmen, findet Otmar Jung, Privatdozent für Politik und Zeitgeschichte. Den wuchernden Eigeninteressen der Politik sei letztlich nur über Volksentscheide beizukommen. Noch aber verharre das Land in der verkrampften Position des Kalten Krieges, es müsse reichen, wenn die Bürger alle vier Jahre Wählen gehen dürfen.

Direkte Demokratie ist trendy. Seit 1990 haben wir, beginnend mit der Verfassungsrevision in Schleswig-Holstein, einen beispiellosen Aufschwung der direkten Demokratie erlebt. Bis 1996 wurden Volksbegehren und Volksentscheid – als Ergänzung der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie – in Deutschland auf Landesebene flächendeckend eingeführt. Gleichzeitig vollzog sich geradezu ein Siegeszug der kommunalen Direktdemokratie: Seit 1998 gibt es Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in allen Gemeindeordnungen. Die Bürger machen von diesen Instrumenten regen Gebrauch.

Nach ihrem Wahlsieg 1998 haben die neuen Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrer Koalitionsvereinbarung erklärt, sie wollten „auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einführen“. Bislang hat man allerdings noch nichts von praktischer Umsetzung gehört; offenbar lagen die Prioritäten anderswo.

Die politischen Skandale und Affären des Winters 1999/2000 haben einen neuen Anstoß zu einer solchen Demokratiereform gegeben. „Gegen den Parteienstaat helfen nur noch Volksentscheide“ (Die Zeit), das ist eine verbreitete Ansicht. Nun haben als erste SPD-Politiker, aus der vordersten Reihe der Generalsekretär Müntefering und die stellvertretende Parteivorsitzende Wieczorek-Zeul, sich für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene ausgesprochen. Was ist davon zu halten?

Wichtig ist zunächst, nicht nur in der Engführung „Wege aus dem Finanzskandal“ zu denken. Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene stehen prinzipiell an als entscheidende Elemente einer allgemeinen „partizipatorischen Revolution“, einer Bewegung der Bürger in Europa hin zu mehr Selbstbestimmung, ja zur politischen Emanzipation, bei der Deutschland immer mehr ins Hintertreffen geraten ist. 1949 hat man keine Elemente direkter Demokratie in das Grundgesetz aufgenommen, um den Kommunisten keine Chance zu geben (wie es damals hieß), „Unruhe zu stiften“. Kein Volksentscheid im Kalten Krieg! war die Devise.

Heute sehen wir, dass die Franzosen über die Erweiterung der Europäischen Union, die Engländer über die Einführung des Euro, die Schweden über den Ausstieg aus der Atomkraftnutzung, die Italiener über das Wahlrecht und die Portugiesen über die Strafbarkeit der Abtreibung abstimmen – dies ist nur eine Auswahl, von Schweizern und US-Amerikanern ganz zu schweigen. Nur Deutschland verharrt auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch in jener verkrampften Position des Kalten Krieges, dass es vollauf genüge, wenn die Bürger alle vier Jahre ihre Stimme (in jeder Hinsicht) abgeben. Schon um auf europäisches Niveau demokratischer Bürger-Selbstbestimmung zu kommen, ist die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid in Deutschland auf Bundesebene überfällig.

Aber diese Forderung hat auch ihre Berechtigung in der gegenwärtigen Krise des Parteienstaates. Hier sind wuchernde Eigeninteressen der politischen Klasse und eine „Machtversessenheit“ (v. Weizsäcker) der politischen Elite sichtbar geworden, denen in der Tat nur durch Volksentscheide beizukommen ist.

Außerdem wären diese vorzüglich geeignet, die bestehende Reformblockade aufzubrechen, was die Koalition (so wenig wie ihre Vorgängerin) gegen die politisch anders gefärbte Bundesratsmehrheit allein nicht schaffen wird. Auf die üblichen Einwände gegen direkte Demokratie einzugehen ist fast müßig, wenn man sich die Praxis in Europa sieht.

Sollten die Franzosen wirklich klüger sein als die Deutschen, die Engländer vernünftiger, die Italiener weniger demagogieanfällig? Statt solche Popanze wieder hervorzuholen, sollten die führenden Politiker nicht nur von „den mündigen Bürgern“ reden, sondern sie als solche ernst nehmen, und zwar nicht nur am Wahltag, sondern auch bei sachlichen Entscheidungen.

Dass die Deutschen auf Bundesebene von ihren direktdemokratischen Rechten einen sinn- und maßvollen Gebrauch machen werden, ist nach den Erfahrungen auf Landes- und Kommunalebene in Deutschland und bei einem Blick zu unseren europäischen Partnern sicher. Weiter mit den alten Misstrauensformeln zu operieren, ist für eine Volksvertretung, die ihre Macht dem Vertrauen ebendieser Bürger verdankt, einfach unanständig.

Otmar Jung (53) ist Privatdozent für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und zusammen mit Hermann K. Heußner Herausgeber des Buches „Mehr direkte Demokratie wagen. Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge“, Olzog 1999.

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