: Serbien in der Agonie
Auch ein Jahr nach dem Krieg bewegt sich im Staate Milosevic’ nichts: Die Opposition weiß, dass nur der Wandel den Verfall aufhalten kann. Der aber ist für das Regime lebensgefährlichvon ANDREJ IVANJI
In Serbien wird im April 2000 vieles glorifiziert: die Tapferkeit, die Zivilcourage, die Einheit von Volk und Führung. Dazu wird gedroht: dem faschistoiden US-Neoimperialismus, der fünften Kolonne im eigenen Lande, den Nato-Söldnern. Am Jargon des Regimes zumindest haben die Bomben des Bündnisses nichts geändert. Nur: Ein Jahr nach dem Krieg lässt sich kaum ein Mensch mehr von dem totalitären Geschwafel begeistern.
Im Gegenteil: Für den 14. April hat die Opposition eine Massenkundgebung in Belgrad angesetzt – nach langem Zögern. Einerseits hoffen die Gegner von Präsident Slobodan Milošević, sie könnten bis zu einer Million Menschen auf die Straßen der jugoslawischen Hauptstadt bringen. Damit wäre bewiesen, dass diejenigen Meinungsumfragen richtig liegen, die besagen, dass die regierende „patriotische Koalition“ mittlerweile überhaupt nur noch von rund 17 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird. Andererseits hat die Opposition aber allergrößte Angst, dass sie über eine wirklich massive Demonstration die Kontrolle verlieren könnte – und dass am Ende ein Blutbad stünde. Denn fest steht: Ein Teil der serbischen Bevölkerung folgt Milošević noch immer gläubig – und für den Präsidenten ist der Machterhalt längst eine Frage des Überlebens geworden.
Der psychologische Zustand der serbischen Gesellschaft ist gefährlich und unberechenbar: Im international isolierten Rest-Jugoslawien glauben immer noch viele gewohnheitsmäßig an die vom Regime propagierten Illusionen. Zum Beispiel, dass die ganze freiheitsliebende Welt sehr bald Serbien im Kampf gegen die von den USA dominierte Weltordnung folgen würde. Ähnlich realitätsfern ist die serbische Nomenklatura: Sie hat sich so lange Trugbilder geschaffen, um sich an der Macht zu erhalten, dass sie allmählich selbst begonnen hat, an die eigene Propaganda zu glauben. Im Selbstbetrug findet sie die einzige Hoffnung, denn nur in dieser Scheinwelt kann sie fortbestehen. Viele Vertreter des Regimes meinen tatsächlich, dass Europa „seine Fehler“ gegenüber Serbien bald einsehen und der internationale Druck nachlassen würde. Man träumt davon, dass die Nato die jugoslawische Armee und die serbische Polizei inständig bittet, ins Kosovo zurückzukehren. Denn die Nato-Schutztruppe KFOR sei ja offensichtlich nicht im Stande, dort für Recht und Ordnung zu sorgen.
Anhand solcher Argumentationen wird klar: Für Milošević und seine Getreuen geht es nicht mehr allein um die Erhaltung an der Macht – es geht um die nackte Existenz, und es gibt kein Zurück. Denn die internationale Gemeinschaft will den Kopf des jugoslawischen Präsidenten. Und deshalb kann sich Milošević nur noch in seiner Funktion als Staatsoberhaupt sicher fühlen. Jeder, der ihm diese Position streitig macht, bedroht sein Leben und das seiner Familie – und wird folglich wie ein Todfeind behandelt. So sind Wahlen in Serbien inzwischen ein Kampf auf Leben und Tod: Egal welche Seite verliert, sie wird sich mit der Niederlage niemals abfinden.
Aber nicht nur Wahlen, auch Demonstrationen können zur Explosion des Systems führen. Druck und Spannung steigen bedrohlich: Auf der einen Seite weiß die Opposition, dass nur ein politischer Wandel den Verfall des Landes aufhalten kann. Auf der anderen steht das Regime, für das jeder politische Wandel lebensgefährlich ist. Die Todesangst des Regimes hat wiederum Unentschlossenheit auf Seiten der Oppositionsführer zur Folge, die sich erst spät zu einer Protestdemonstration durchringen konnten. Denn es ist Wahljahr in Serbien. Und je näher der noch unbestimmte Termin für die Kommunalwahlen rückt, desto intensiver ist die Spannung im Lande zu spüren.
Die Oppositionsführer glauben zwar, dass Milošević, selbst wenn er die Wahlen verliert, seine Macht nicht hergeben würde. Gleichzeitig will man jedoch blutige Auseinandersetzungen um jeden Preis vermeiden. Zudem wird befürchtet, dass Milošević für den Fall, dass er in Serbien in Bedrängnis gerät, neue Konflikte außerhalb der für ihn lebenswichtigen inneren Landesteile auslösen könnte. Dabei würde es nicht auf den Erfolg ankommen. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass Milošević aus den bisherigen Misserfolgen lernen wird: Es spielt keine Rolle, dass unter seiner Führung fast alle Serben aus Kroatien vertrieben worden sind oder dass er die Republika Srpska in Bosnien und das Kosovo verloren hat. Es zählt nicht, dass die zweite jugoslawische Teilrepublik Montenegro dabei ist, aus der Föderation herauszutreten. Es ist sowieso ganz klar: Alle eventuellen zukünftigen Schlachten Milošević’ sind im Voraus zu einer Niederlage verurteilt. Es würde nur darum gehen, abzulenken, wenn der Druck in Serbien zu gefährlich wird, und ein Ventil zu öffnen, um Zeit zu gewinnen.
Die Möglichkeiten für einen gezielten Konflikt sind zahlreich: Die gleichgeschalteten staatlichen Medien versprechen schon pompös die baldige Rückkehr der jugoslawischen Armee ins Kosovo. Auch im zu 70 Prozent von Albanern bewohnten Südserbien könnte der Konflikt sehr leicht eskalieren. Im Sandžak an der serbisch-bosnischen Grenze, in dem eine starke muslimische Minderheit lebt, könnte die Stimmung ebenfalls leicht verschärft werden. Allerdings wird der Sandžak von Vertretern des Regimes und ihnen nahen Medien in letzter Zeit kaum erwähnt. Und schließlich kämpft die Wojwodina im Norden Serbiens, die vor Milošević’ Ära wie das Kosovo eine autonome Provinz war, gegen den Belgrader Zentralismus.
Doch am gefährlichsten ist die Situation in Montenegro. Seit Jahren versucht Milošević schon, die prowestlich orientierte montenegrinische Regierung zu entmachten. Genau wie die serbische Opposition wird auch Montenegros Präsident, Milo Djukanović, seitens des serbischen Regimes angeprangert, im Auftrag der Nato zu handeln – also von „Mördern serbischer Kinder“ Geld zu erhalten, um das Land zu destabilisieren. Denn was die Nato mit Bomben nicht erreichen konnte, nämlich Serbien zu erobern, solle nun deren „fünfte Kolonne“ ermöglichen. Allerdings kann Milošević in der Adria-Republik mit der Unterstützung von etwas weniger als fünfzig Prozent der Bevölkerung rechnen. Ein Wink aus Belgrad würde reichen, um einen blutigen Bürgerkrieg anzuzetteln, denn die Präsident Djukanović ergebene Polizei der kleineren jugoslawischen Teilrepublik ist hoch motiviert, militärisch ausgerüstet – und besser bezahlt als das jugoslawische Heer. Trotzdem würden wohl weder die in Montenegro stationierten Truppen der jugoslawischen Armee noch die Nato die Auseinandersetzung mit gekreuzten Armen beobachten.
Milošević’ Regime gründet auf Trugbildern. Die tragende Illusion ist, dass das kleine serbische Volk von anderen Nationen in der Region bedroht und von der neuen Weltordnung vernichtet werden soll – weil Washington keine wirklich freien und unabhängigen Länder dulde. Und nur im Kampf finden patriotische Gefühle einen genügend starken Anreiz, um alles andere nichtig erscheinen zu lassen.
Hinweise:Die Nomenklatura hat begonnen, ihre Propagandalügen zu glaubenBlutvergießen will die serbische Opposition um jeden Preis vermeiden
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