: Scherben bringen Arbeit
Wie schwer es war, mit jeder Mark, jeder Sekunde und jedem Gramm Material einen höheren Nutzeffekt zu erzielen: Ferienjobs in der DDR
von JOCHEN SCHMIDT
Kinderarbeit war in der DDR nur in den Ferien erlaubt. Wenn in der Schulzeit in Fabriken gearbeitet wurde, war das ein Unterrichtsfach. Es hieß Produktive Arbeit, wurde nicht bezahlt und diente dem Zweck, die Kinder auf eine Karriere als Berufsoffizier einzuschwören.
Einmal wollte ich arbeiten in den Ferien. Bevor es losging, musste ich den Profit ausrechnen. Man hatte von Traumgehältern gehört, die der Milchhof Buch zu zahlen bereit war. Ich rechnete: Wenn man in eine Kiste 25 leere Flaschen stellte, bekam man 15 Pfennig. Das dauerte eine halbe Minute. In zwei Wochen könnte ich also 1.600 Mark verdienen! Ich war reich, konnte aber nicht einschlafen vor Aufregung.
Der Preis des Wohlstands. Zu Beginn der Ferien ging ich mit meinem Bruder zum Milchhof Buch. Ich hatte gar nicht gewusst, dass hinter dieser Mauer eine Firma war. Der Milchhof bestand aus mehreren Hallen und einer Bürobaracke. Auf dem Gelände wurde gerade von einem dutzend Bauarbeitern eine neue Halle gemauert. Wir betraten das Büro. „Watt wollt ihr denn hier?“ – „Hier kann man doch arbeiten.“ – „Jetzt is aber nüscht zu tun.“ Der Meister vertagte das Problem. „Ronny, jib denen watt ßum anziehen und setz se nach nebenan, ick hab jetz keene Sseit.“
Ronny drückte uns die beliebten blauen Latzhosen in die Hand, die, ohne je gewaschen zu werden, ganz ausgewaschen waren. Dann bekamen wir Zitronentee aus einem riesigen Blechkanister mit einem Zapfhähnchen dran und setzten uns in den Umkleideraum. Da saßen wir vier Stunden, legten den Kopf auf den Tisch und dösten. Es war schrecklich.
So hatte ich mir Kinderarbeit nicht vorgestellt. Draußen hörte man manchmal die Bauarbeiter brüllen. Gegen Mittag rumpelte es nebenan, und jemand aß sein Pausenbrot. Erst am Nachmittag trauten wir uns wieder ins Büro.
„Ihr krepelt ja immer noch hier rum!“ – „Können wir jetzt nach Hause?“ – „Mensch, ick hatte euch janz verjessen, hat euch Ronny nich einjewiesen?“ – „Nee.“ – „Ach, Scheiß druff, denn kommt ihr eben morgen wieder, um sieben, aber bitte pünklich, ab Marsch!“
Wir verließen das Gelände und schwangen uns auf unsere Klappräder. Durch unsere Hartnäckigkeit hatten wir einen Job bekommen. Jetzt würden wir leere Milchflaschen in Plastekästen tun und reich damit werden.
Am nächsten Morgen kamen wir um sieben. Gegen halb acht kamen die Bauarbeiter, der Meister war die Woche über im zentralen Milchhof in Pankow. Ronny war gegen acht da. Er zeigte uns das Gelände, auf dem er den ganzen Tag Gabelstapler fuhr. Er hatte sich aus den Milchkästen einen Parcours gebaut, auf dem er seine halsbrecherischen Wendemanöver übte. Leider waren keine leeren Flaschen einzusortieren. Es gab auch sonst nichts zu tun.
Die Bauarbeiter schafften es, die Mauern der neuen Halle jeden Tag um genau eine Reihe Steine zu erhöhen. Sie riefen uns zu: „Lasst euch von dem Hürnie nüscht sagen!“ Arbeitersolidarität. Wir bekamen die Aufgabe, in einer riesigen Halle lagernde Milchkanister aus Aluminium mit roten Punkten zu versehen. Die Hälfte der Kanister war schon von andern Schülern in früheren Ferien angepinselt worden. Wir arbeiteten uns die hochgestapelten Reihen durch und merkten nach einer Stunde, dass wir bei dem Tempo schon am Abend fertig wären. Und wir wussten nicht, ob Ronny das recht wäre. Um etwas Zeit zu gewinnen, begannen wir, uns Geheimgänge aus Milchkanisterstapeln zu bauen, und spielten Versteck. Dann entdeckten wir, dass die Kanister in den hinteren Reihen von unseren Vorgängern nicht mit Punkten bemalt worden waren, sondern mit Fratzen und sonstigem Krikelkrakel. Wir überarbeiteten noch einmal unsere Punkte.
Am Abend hatten wir es geschafft, erst die Hälfte der Kanister geschafft zu haben. Ronny war zufrieden, bis morgen, tschau. So verging der Sommer unserer Jugend, die Tage strichen träge dahin. Ronny fuhr Gabelstapler, die Bauarbeiter ließen sich Zeit, der Meister kam einmal die Woche, und wir zählten die Stunden.
Dann passierte endlich wieder etwas. Ronny hatte einen riesigen Stapel aus Paletten, auf denen leere Milchflaschen standen, mit dem Gabelstapler umgeschmissen. Wir sollten die ganz gebliebenen Flaschen aus dem Glasberg heraussortieren. Das war mühsam. Lustiger war es, mit diesen Flaschen jonglieren zu üben, wenigstens gingen sie dabei kaputt, und wir hatten weniger Arbeit. Es blieben nicht viele übrig. Da kam der Meister. Er bückte sich, um ein paar ganz gebliebene Flaschen aus den Scherben zu retten.
Wir konnten das nicht verstehen, es gab doch genug, und außerdem war der Sozialismus zum Scheitern verurteilt, das konnte man jede Woche bei „Kennzeichen D“ nachprüfen. Dummer Meister. Als es nach drei Wochen an die Abrechnung ging, rechnete er mürrisch das Geld zusammen. Lumpige 5 Mark die Stunde.
Weniger habe ich eigentlich nur bei der Apfelernte verdient. Dafür habe ich dort doch noch jonglieren gelernt, man musste sich nämlich nicht ständig nach den Bällen bücken. Außerdem hatte die Klasse schon vorher beschlossen, das Geld für Solidarność zu spenden. Die gleichzeitig arbeitenden Polen waren aber zehnmal so schnell wie wir. Wozu brauchten die unsere Solidarität?
Und wer sollte die ganzen blöden Golden Delicious essen? Wir trugen Gummianzüge, und die Welt war ein einziger feuchtkalter Tautropfen. Ich fühlte eine große Sinnlosigkeit in mir aufsteigen und haute nachts aus dem Bungalow ab. Aber draußen waren nur die dunkle Nacht und ein paar Sterne. Drinnen musste ich mit den anderen „Aktuelle Kamera“ gucken. Nichts mit „Schwarzwaldklinik“.
Dass wir dann im PA-Unterricht beim Tiefbaukombinat Starkstromdosen zusammenmontiert und beim nächsten mal wieder auseinander montiert haben, weil inzwischen keine neuen Teile gekommen waren, habe ich noch hingenommen. Aber als wir im VEB Elektrokohle Pankow aus Keramikmasse Laichgrotten für unsere Hobbyaquarier basteln mussten, weil jemand in der Partei- und Staatsführung beschlossen hatte, dass alle Betriebe Konsumgüter herzustellen hätten, war das Maß voll. Ich hatte jeden Antrieb zur Arbeit verloren und habe mich genau wie die DDR nie wieder davon erholen können.
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