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Arbeitslosigkeit und Degeneration

Der Schwanz ist eindeutig kleiner geworden: Das Carrousel Theater zeigt „Furcht und Hoffnung in Deutschland“ von Franz Xaver Kroetz

Es geht um das Zuviel und das Zuwenig und um die Spanne dazwischen. Und die wird größer. Manche haben immer mehr, andere immer weniger.

Die Karrierefrau (Kristine Keil) hat von allem zu viel, zu viel von diesem bewussten Strahlen im Gesicht, zuviel von der roten Schminke auf den Lippen, zuviel Korrektheit in viel zu vielen (tänzerischen) Bewegungen. Sie macht den anderen die Prima-ballerina, den Reglosen, verteilt an kleinen Tischen sitzend in einem Wartesaal, der ebenso als Großraumbüro oder Vorzimmer zur Hölle verstanden werden kann, und gibt sinnlose Winkzeichen mit Aktenordnern. Bevor sie dem Arbeitslosen energisch in die Hose greift, streift sie sich Gummihandschuhe über: Ja, sein Schwanz ist eindeutig kleiner geworden – Arbeitslosigkeit gedacht als Versuchserie der Wirtschaftspolitik und als Zustand der allgemeinen Degeneration.

Der Gerngroß-Willi (Marko Bräutigam) heißt immer noch so, obwohl er längst viel zu wenig hat. Aber er hat über seine Verhältnisse gelebt, das sieht er ein. Er ist so grau gekleidet, so blass im Gesicht, dass er sich selbst glatt zum Verschwinden bringen könnte, wäre da nicht diese nicht zu bändigende Aufmüpfigkeit in seiner Stimme.

Das Carrousel Theater hat das Stück, das Franz Xaver Kroetz 1984 als lose Szenenfolge über die heillos und beständig zunehmende Arbeitslosigkeit anlegte, nun in einer kurzen und bündigen Fassung vorgestellt. Und Regisseur Uwe Cramer hat es geschafft, der Kroetzschen Polemik ein aktuelles und menschliches Gesicht zu geben, die politischen Phrasen mit Verzweiflung zu kontern und beklemmend zeitlose Theatermomente zu schaffen. Eine Inszenierung, spröde und pathetisch, ästhetisch an Marthaler geschult, den Verlust der menschlichen Würde an- und Veränderungsbedarf einklagend, politisches Jugendtheater, wie es in Berlin lange nicht zu sehen war. REGINE BRUCKMANN

Heute 18. 30 Uhr, die nächsten Vorstellungen am 11. und 12 Mai, 18.30 Uhr, Carrousel Theater, Parkaue 29

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