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Die Krise als Katastrophe

Die PDS weiß nicht, wer neuer Parteichef wird und wie sie aus der Krise kommt. Sie weiß nicht einmal, wie sie ihren Zustand bezeichnen soll

von JENS KÖNIG

Joschka Fischer flieht in die Toskana, wenn ihm seine Grünen zu sehr auf die Nerven gehen – und fängt danach wieder munter von vorne an. Gregor Gysi flieht ganz. Nicht, dass er nicht wüsste, wo die Toskana liegt. Aber er will lieber nach Hause. Zu seiner vierjährigen Tochter. Zu seiner Frau. In eine Anwaltskanzlei, wer weiß.

Vielleicht sagt dieser feine Unterschied zwischen Fischer und Gysi schon alles darüber, was im Westen und was im Osten man unter Politik versteht, wo die Selbstdistanz aufhört und das Selbstmitleid anfängt. Vielleicht aber haben Fischer und Gysi doch nur das gleiche Problem: Sie leiden an ihrer Partei, und das mehr als andere. Die klügsten Köpfe leiden immer am meisten.

Sie neigen allerdings auch dazu, selbst ihre schwärzesten Stunden noch als eine Erleuchtung der Massen zu deuten. Gerade mal 48 Stunden ist es jetzt her, dass Gysi mit seiner Ankündigung, sich 2002 ganz aus der Politik zurückzuziehen, seine Partei in einen Schockzustand versetzt hat. Die PDS verliert mit ihm – und nicht mit Parteichef Lothar Bisky, der ebenfalls frustriert aufgibt – ihren wichtigsten Kopf, ihre Symbolfigur, ihren einzigen Star. Schon sagen die ersten Analysen der Partei herbe Einbrüche selbst bei ihrer ostdeutschen Stammwählerschaft voraus. Die Sozialdemokraten und die Grünen schicken anläßlich des plötzlichen Todes einer reformierten PDS schon fröhliche Beileidstelegramme.

Aber was macht Gysi? Er lächelt schon wieder und spricht von einer Chance für seine Partei.

Natürlich unterstreicht der Fraktionschef mit diesem intellektuellen Überschlag noch einmal ganz dezent seine Bedeutung für die PDS, aber er scheint von seinem Gedanken auch wirklich überzeugt zu sein. Die Chance für die Partei sieht er im Angriff. Im Angriff auf die Dogmatiker, die Sektierer, die Nostalgiker. Im Angriff auf die Wagenknechts von der Kommunistischen Plattform, die Heuers vom Marxistischen Forum, die namenlosen Spinner vom Hamburger Landesverband, die mit ihren Debatten über die Weltrevolution nicht nur den Parteitag in Münster terrorisiert haben. „Nie wieder darf sich die neue Parteiführung das bieten lassen, was Bisky und ich uns haben bieten lassen“, sagt Gysi, „sie darf nicht tolerant sein gegenüber Intoleranz.“

Dieser plötzliche Konfrontationskurs erklärt sich nicht nur mit dem Ärger und den Demütigungen, die Gysi über die Jahre in seiner eigenen Partei ertragen musste, sondern auch mit den Fehlern, die Bisky und er gemacht haben. Gysi spricht eigentlich über seine eigenen Versäumnisse, wenn er den Nachfolgern in der Parteispitze rät, der PDS-Basis endlich Bedingungen zu diktieren. Die neue Führung müsse die Basis auffordern, sich zu entscheiden: Entweder wollt ihr uns, und dann bekommt ihr eine moderne, demokratische, sozialistische Reformpartei – oder ihr wollt uns nicht, dann wählt die anderen.

Gregor Gysi ist beileibe nicht der Einzige in der Partei, der so denkt, aber der Einzige, der das momentan so deutlich sagt. Die Genossen aus der zweiten Reihe hinter Gysi und Bisky sind noch dabei, jene Wunden zu lecken, die ihnen der Parteitag in Münster zugefügt hat. Außerdem rüsten sie sich für den personellen Machtkampf, der gerade beginnt, da verbieten sich allzu forsche Äußerungen. Die jungen Radikalreformer schreiben mal wieder an einem Positionspapier. Angela Marquardt fordert die Etablierung einer linken Strömung in der PDS. Aber ihnen allen fehlt das Charisma von Gysi, um die Partei aus ihrem Schockzustand zu befreien.

Die Krise lässt sich am deutlichsten daran ablesen, dass sich die PDS-Führung nicht mal darüber einig ist, ob sich die Partei in einer Krise befindet (Parteivize Diether Dehm), ob sie nur ein Führungsproblem hat (Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch), oder ob ihr jetziger Zustand gar einer Katastrophe gleicht (Europaparlamentarier André Brie). Die Reformer denken lieber nicht so genau darüber nach, wie sie es nennen, was ihre Partei gerade ereilt, sie wollen es nur so schnell wie möglich überwinden.

Aber wie? Auch darüber gibt es unter ihnen keine klaren Vorstellungen. Einigkeit herrscht nur in wenigen Punkten: Der nächste Parteitag muss so schnell wie möglich stattfinden, also im Herbst; auf dem Parteitag muss eine reformorientierte neue Führung gewählt werden; die Debatte über das neue Grundsatzprogramm, mit dem die Partei sich gegenüber der bundesdeutschen Gesellschaft öffnen soll, muss schärfer geführt werden.

Über alles Weitere wird mehr oder weniger zusammenhanglos diskutiert. Einige wollen versuchen, Gysi zu überreden, seinen Entschluss rückgängig zu machen. Andere, die Gysi gut kennen, halten das für völlig aussichtslos. Helmut Holter, der einflussreiche Chef des Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern, prescht mit der Forderung vor, notfalls Leute aus der Partei auszuschließen. Hinter vorgehaltener Hand munkeln einige sogar davon, den gesamten Hamburger Landesverband aus der Partei ausschließen zu wollen. Der Ausschluss eines kompletten Landesverbandes ist laut PDS-Statut möglich. Aber selbst viele Reformer hielten diesen Schritt für völlig überzogen. Roland Claus, parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Fraktion im Bundestag und als einziger ernst zu nehmender Kandidat für die Gysi-Nachfolge im Gespräch, will „die Auseinandersetzung lieber in der Programmkommission suchen und nicht vorm Schiedsgericht der Partei“.

Und dann ist da noch die Angst der Genossen vor einer langen, quälenden Personaldebatte. Wer folgt Bisky als Parteivorsitzendem nach? Vor allem: auf welchem Weg? Das Chaos in der Partei zeigt sich auch in der völligen Unklarheit über das Verfahren für die Wahl des neuen Parteichefs. Der noch amtierende Vorsitzende Lothar Bisky will weder eine Urabstimmung noch eine Basisbefragung ausschließen, beides sei für ihn aber auch nicht zwingend. Sicher scheint nur, dass eine linke Partei wie die PDS in der Frage der Mitbestimmung ihrer Mitglieder nicht hinter die CDU zurückfallen darf. Die hat ihre neue Parteichefin Angela Merkel gerade auf Regionalkonferenzen gekürt – aber eben auch nicht direkt gewählt. So etwas Ähnliches schwebt vielen in der PDS-Führung vor.

Nach dem Parteitag haben die Reformer jedoch allen Grund, sich vor ihrer Basis zu fürchten. „Was, wenn sich auf den Regionalkonferenzen die ganzen Kommunisten und Nostalgiker sammeln?“, fragt ein Berater von Bisky besorgt. Die Antwort liegt auf der Hand: Dann würden die erklärten Favoriten von Lothar Bisky auf seine Nachfolge, Dietmar Bartsch und die Berliner Landeschefin Petra Pau, beide entschiedene Reformer, vielleicht durchfallen. Vielleicht auch würde Bartsch, den viele in der Partei nicht mögen, weil er zu sehr polarisiert, gegen die bodenständigere, pflegeleichtere Pau ausgespielt. Der Bundesgeschäftsführer, der von Gysi für den Parteivorsitz favorisiert wird, gilt nach dem Parteitag als angeschlagen. Dass er in Münster nach der Abstimmungsniederlage in der umstrittenen Frage der UN-Einsätze den Saal verlassen hat, halten ihm die einen als Nervenschwäche und die anderen als Arroganz vor.

Ohnehin gilt das Verhältnis zwischen Bartsch und Pau als nicht gerade entspannt. Einige in der Partei befürchten schon, dass sich hier zwei Reformer, deren Positionen sich in den wichtigen Fragen kaum voneinander unterscheiden, gegenseitig zerfleischen. „In der jetzigen Situation wäre das Wahnsinn“, warnt Helmut Holter. Trotzdem beginnt in der PDS das muntere Ratespiel: Wer könnte denn noch, wenn es weder Bartsch noch Pau machen? Namen werden gehandelt wie Sand am Meer, die einen so unbekannt wie die anderen unfähig. Außenseiterchancen werden bestenfalls noch Gabi Zimmer eingeräumt, der PDS-Chefin von Thüringen.

André Brie übrigens war am Wochenende nicht auf dem Parteitag. Er war nicht delegiert, er sitzt mittlerweile im Europaparlament. Als Gast wollte er nicht nach Münster fahren. Er habe geahnt, was auf dem Parteitag passiert, sagt er, und hätte sich dort nicht beherrschen können. Der selbstquälerische Brie, einer der bestgehassten Männer in der PDS, gehört zu den wenigen, die noch mehr an der Partei leiden als sein Freund Gregor Gysi. Münster hat Brie nur noch wütend gemacht. „Als ich am Wochenende in meinem Wochenendhaus in Mecklenburg war“, erzählt er, „haben mir viele einfache Leute im Dorf erzählt, dass sie nach diesem Desaster auf dem Parteitag nicht mehr PDS wählen.“ Plötzlich fällt auf, dass André Brie der Einzige in der Partei ist, der offen über Angst spricht. Über seine Angst vor einer PDS ohne Gysi.

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