piwik no script img

Ein Rückschlag für das liberale Judentum

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin lässt ihre Mitgliedschaft in einem weltweiten liberalen Gemeindeverbund ruhen – obwohl sie zu den Gründern gehörte. Zugleich strebt der schwelende Konflikt um die Kündigung des liberalen Rabbiners Rothschild seinem Höhepunkt zu

von PHILIPP GESSLER

Wer Augen hatte zum Sehen, der sah: Der kompakte Rabbiner Walter Rothschild öffnete leise die Tür und warf durch seine immense Brille einen kurzen Blick durch den Saal. Dann senkte er den Kopf, den ein großer schwarzer Hut ziert, schlich sich an dem Tisch vorbei, an dem er früher sitzen durfte und verdrückte sich in die letzte Stuhlreihe. Sein Chef, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin würdigte ihn keines Blickes. Nicht für eine Sekunde unterbrach Andreas Nachama seine Rede. Es sollte ein schwarzer Abend für Rabbiner Rothschild und das liberale Judentum in Deutschland werden.

Denn am Mittwoch eskalierten in der „Repräsentantenversammlung“, dem Berliner Gemeindeparlament der größten jüdischen Gemeinde der Bundesrepublik, zwei Konflikte von bundesweiter Bedeutung, die seit Monaten brodeln und um die Frage kreisen: Wie liberal soll das deutsche Judentum sein? Es ging um den Rang der liberalen Juden hier zu Lande und die Kämpfe um den einzigen liberalen Rabbiner, der in einer Einheitsgemeinde angestellt ist – angestellt war. Rothschild wurde am 16. Februar fristlos gekündigt, ohne Begründung.

Die Kündigung fand weltweit Beachtung: Während das deutsche Judentum der Vorkriegszeit einen starken liberalen Zweig hatte (so gab es in Berlin die erste Rabbinerin überhaupt), waren nach der Shoah die hier gestrandeten Juden aus dem Osten mehrheitlich orthodox. Zugleich wurden in Deutschland Einheitsgemeinden gegründet, die alle Strömungen vereinen sollten. Da die meisten Mitglieder orthodox waren, hatten die Gemeinden mit Ausnahme Berlins keine liberalen Rabbiner.

Auch deshalb ist Rabbi Rothschild von solcher Bedeutung. Der gebürtige Engländer wurde 1998 von einer Südseeinsel ins kalte Berlin gebracht. Er sollte sich um mindestens fünf Synagogen kümmern. In einer gab es rasch Stunk: Das Gotteshaus in der Pestalozzi-Straße, das als Hauptsynagoge gilt, versteht sich zwar als liberal, hat aber die Fortentwicklung des liberalen Judentums in den USA und England, wo Rothschild geprägt wurde, nicht mitgemacht. Gleichzeitig ist es keineswegs orthodox, denn es gibt einen gemischten Chor und eine Orgel – ein orthodoxer Rabbiner kann dort nicht amtieren.

Der witzige und unkonventionelle Rothschild eckte schon nach drei Monaten an, weil er in einer Predigt eine Kondomschachtel zeigte – Leute, die es wissen müssen, sagen: Schon da stand er kurz vor seiner Entlassung. Mit Mühe habe ihn Andreas Nachama, der ihn geholt und sogar aus seinem Südseevertrag herausgekauft hatte, halten können. Aber die Konflikte brachen nicht ab. Auch wenn weder Nachama noch Rothschild darüber offiziell mit der Presse reden wollen – in der Gemeinde ist bekannt, dass Nachamas Vater, der hoch angesehene, in ganz Europa bekannte Oberkantor Estrongo Nachama, nichts mit Rothschild anfangen konnte. Estrongo, der die Synagoge Jahrzehnte prägte, habe es nicht vertragen, dass jemand den Ritus so anders gestaltete. Seit etwa sieben Monaten ist es Rothschild verboten, dort zu predigen.

Als Estrongo Nachama im Januar starb, hätte sich die Situation vielleicht beruhigen können, stattdessen gewann sie noch an Dramatik. Die Repräsentantenversammlung beschloss die Kündigung Rothschilds. Der beklagte sich öffentlich, sie sei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durchgepeitscht worden. In der Repräsentantenversammlung ist dagegen zu hören, es sei alles koscher gelaufen. Zudem hätten die Repräsentanten den Entschluss noch einmal einstimmig bekräftigt. Der Konflikt mit Estrongo Nachama scheint auch nur die halbe Geschichte zu sein: Doch die ganze wollen weder Andreas Nachama noch Rothschild erzählen, da sie offenbar Dritte betrifft. „Ich schweige eisern“, sagt Nachama – trotz der Vorwürfe gegen seinen Vater.

Am Mittwoch drohte nun der ganze Konflikt wieder in der Öffentlichkeit breit getreten zu werden: Die Repräsentantenversammlung sollte über die Frage beraten, ob in der Gemeindezeitschrift jüdisches berlin der Abdruck von Leserbriefen verhindert wurde, die sich für Rothschild aussprachen. Ein paar Demonstranten forderten mit Plakaten vor dem Saal. „Demokratie und Transparenz für alle“.

Doch die Repräsentantenversammlung befasste sich inhaltlich gar nicht mit dieser Frage. Nachama erklärte, er habe nie irgendein Veto gegenüber Briefen ausgesprochen. Keiner der 15 anwesenden Repräsentanten schlug sich auf die Seite der Rothschild-Verteidiger. Es wurde lediglich beschlossen, dass in Zukunft das dreiköpfige Präsidium des Gemeindeparlaments „verantwortlich im Sinne des Presserechts“ sein sollte. Ein Demonstrant, der zugleich im Vorstand einer liberalen Synagoge ist, wertete dies als Rückschlag für die Forderungen nach mehr Offenheit. Doch es kam noch dicker für Rothschild und die liberalen Juden. Andreas Nachama erklärte seinen Rücktritt aus dem Führungsrat des Weltverbandes liberaler Juden, der World Union for Progressive Judaism. Er fühlte sich brüskiert vom Leiter des Verbandes, Rabbi Richard Block. Dieser war eingeladen worden, in der Repräsentantenversammlung zu sprechen. Er sollte zu Vorwürfen Stellung nehmen, die deutsche Tochterorganisation seines Verbandes spalte das deutsche Judentum (siehe Kasten). Doch Block hatte auf die Einladung von Nachama nur schriftlich, in einem englischsprachigen Brief geantwortet. Obwohl wenige Tage zuvor sowieso in Berlin, fand er keine Zeit, das Gemeindeparlament zu besuchen.

Die Parlamentarier waren beleidigt über Blocks Verhalten. Sie hoben das Thema überraschend auf die Tagesordnung und votierten mit klarer Mehrheit dafür, die Mitgliedschaft im Verband ruhen zu lassen. Entsetzt über die Entscheidung zeigte sich Julius Schoeps. Der Repräsentant ist Leiter des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, dem ein Kolleg zur Ausbildung liberaler Rabbiner angegliedert ist. Die Ausbildungsstätte steht der deutschen Tochterorganisation der World Union nahe. Der Geschichtsprofessor zeigte auf das Bild des legendären Berliner Rabbiners und World-Union-Mitgründers Leo Baeck an der Stirnseite des Saales und fragte, ob man ihn nun abhängen wolle. Stehend erklärte Schoeps, er werde aus Protest seine Mitgliedschaft in der Versammlung ruhen lassen, „bis sich die Dinge klären“.

Rabbi Rothschild, ausgebildet am liberalen Leo-Baeck-Institut in London und auch Mitglied der World Union, sagte nach der Entscheidung gegen elf Uhr nachts, er sei „deprimiert“ über den Beschluss. Dies sei „für Berlin katastrophal“, meinte er noch. Dann stand Rothschild von seinem Stuhl in der letzten Reihe auf, um zu gehen. Nachama dagegen kommentierte trocken, nun müsse sich die World Union in Deutschland eben auf andere Gemeinden als die Berliner stützen – auch die gemeinsame liberale Ausrichtung des Gemeindevorsitzenden und seines umstrittenen Rabbis verbindet die beiden nicht mehr. Am Montag wird das Schiedsgericht des Zentralrats in Berlin über die Klage Rothschilds gegen seine Kündigung beraten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen