Aus dem Tunnel

In fast allen Kulturen existieren Berichte von Menschen, die auf unterschiedliche Weise dem Tod physisch oder psychisch nahe kamen und in diesem Grenzbereich zwischen Leben und Sterben besondere Erlebnisse hatten. Betroffene fühlten, als beobachteten sie sich selbst von außen. In ihren Berichten treten oft mystische Lichter, Verstorbene, Engel oder Dämonen in Erscheinung – nicht zu vergessen der ominöse Tunnel, den man in diesen Situationen angeblich durchquert.

Nicht nur psychisch anfällige, labile Menschen oder pathologische Minderheiten erleben solche Todesnäheerfahrungen – sie sind relativ weit verbreitet. Die Wissenschaft tat sich in der Vergangenheit schwer, diese anderen, nicht alltäglichen Wirklichkeiten zu untersuchen, weshalb Mystik und Religion bei der Erklärung so bedeutsam wurden.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit spirituellen und religiösen Aspekten entwickelte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Religionspsychologie fragt nach den psychischen und sozialpsychologischen Ursachen von Religion, nach individuellen religiösen Einstellungen und Überzeugungen, nach Motiven religiösen Erlebens und nicht zuletzt nach pathologischen, also krankhaften Formen.

Religiöse Erlebnisse können von schwacher und allgemeinerer Art bis hin zu intensiven, gar mystischen Erlebnissen auftreten. Religionspsychologen und -soziologen haben versucht, diese Erlebnisse zu kategorisieren (z. B. Charles Glock und Raymond Stark).

Die einfachste Form tritt als so genanntes bekräftigendes Erlebnis auf, bei der man die Existenz oder Gegenwart einer „göttlichen“ Kraft bemerkt. Einige beschleicht, beispielsweise beim Betreten sakraler Gebäude, eine allgemeine Ahnung, andere beschreiben dagegen ein konkretes Bewusstsein.

Intensiver sind die so genannten reagierenden oder mitteilsamen Erlebnisse, bei denen Menschen scheinbar übernatürliche Zufälle erleben oder glauben, ihre Gebete seien erhört worden. Einen noch stärkeren Eindruck hinterlassen diese Erlebnisse, wenn sie von ekstatischen Gefühlen begleitet werden. Betroffene berichten von Rauschzuständen und regelrechter Verzückung.

Die stärkste und nachhaltigste Form religiösen Erlebens nehmen die betroffenen Menschen als Offenbarung wahr. Dabei hätten sie eindeutig gefühlt, wie sich das „Göttliche“ oder „Jenseitige“ ihrer bemächtigte – oftmals folgen daraufhin prophetische Äußerungen.

Diese „Offenbarungen“ können orthodoxer Art sein – also allgemein anerkannten Glaubensnormen entsprechen – oder heterodox, von diesen abweichend. Letztere unterliegen weit stärkeren Selbstzweifeln, da sie als abnorm und unwirklich empfunden werden.

All diese Erfahrungen können ebenso als negative Erlebnisse auftreten, sozusagen als teuflische statt „göttliche“ Erfahrungen empfunden werden. Die Bandbreite reicht von der bloßen Wahrnehmung „böser“ übernatürlicher Macht bis hin zum Gefühl, von dieser terrorisiert oder bestraft zu werden.

Gemeinsames Merkmal all dieser Erlebnisse ist die hochgradige emotionale Reaktion (bis hin zu Schockzuständen) während des Erlebens – und nicht selten darüber hinaus –, die psychische Probleme verursachen können.

Einen Überblick über Grundlagen und den gegenwärtigen Stand der Forschung bietet beispielsweise Michael Utsch: Religionspsychologie, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1998, 305 Seiten, 69 Mark.

JAN ROSENKRANZ