: Deleuze’ Geste
Mythologen des Internet berufen sich gern auf Gilles Deleuze. Zu Unrecht, wie Martin Stingelin in „Das Netzwerk von Deleuze“ zeigt
von RENÉ AGUIGAH
Das Internet besteht aus „tausend Plateaus“, es wuchert so wild wie ein „Rhizom“, seine User gleichen „Nomaden“, sie machen Cybersex mit ihren „organlosen Körpern“. Oder? Jedenfalls stolpert man immer wieder über solche Versuche, das Netz der Netze mit Sinn auszustatten: Man nehme einen Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari und erkläre die virtuelle Welt.
Wie vermessen eine derart „umstandslose Übertragung“ ist, zeigt der Basler Literaturwissenschaftler Martin Stingel in seinem glänzenden kleinen Buch über „Das Netzwerk von Deleuze“. Er räumt ein, wie verführerisch eine solche Lektüre von „Mille plateaux“ (1980) ist, listet aber gleichzeitig auf, warum Deleuze’ Denken nicht zur großen Erzählung vom Internet taugt. Schon seine Polemik gegen binäre Logik, Informatik und „Techno-Narzissmus“ spricht dagegen. Erst recht sperrt sich sein Verständnis von Virtualität gegen die Vereinnahmung. Denn während le virtuel bei Deleuze „im Begriff eine eigene Realität hat, die ihrer Aktualisierung in einer wirklichen Schöpfung harrt, beschränkt sich die Computervirtualität auf die Realisierung einer rechnerischen Möglichkeit“: Sie erzeugt bloß Wiederholung, keine Differenz.
All das schreibt Stingelin noch im einleitenden Kapitel. Doch wenn er hier das Netz des Denkens trennt vom Netz der Maschinen, wenn er so den deleuzianischen Begriffen ihr widerständiges Potenzial zurückgibt, dann befindet er sich längst mitten im Thema: Er will „Züge im Bild des Denkens“ von Gilles Deleuze zeichnen. Dabei konzentriert er sich auf Material, das erst seit kurzem zugänglich ist: das Filmgespräch „L'Abécédaire de Gilles Deleuze“ und das Korpus von Vorlesungen, das zur Zeit im Internet veröffentlicht wird. Stingelin gebraucht das elektronische Netz also ohne mythischen Überbau: Er nutzt den schnellen, freien Zugang zu konkreten Texten.
Hunderte von Seiten warten unter dem Titel „web deleuze“ darauf, heruntergeladen zu werden: wörtliche Transkriptionen von Tonband-Mitschnitten aus den Kursen von 1971 bis 1987. Auch wenn die Website noch „en construction“ ist, vermitteln die bislang zugänglichenTexte – etwa 60 – einen substanziellen Blick in die Denkwerkstatt von Deleuze. Einmal in der Woche, Dienstagvormittags, hielt er im Pariser Vorort Saint-Denis seine Vorlesungen: über „Mille Plateaux“ und den „Anti-Ödipus“, über Kant, Leibniz und Spinoza. Er gab das Thema und eine Frage vor. Der weitere Verlauf blieb weitgehend offen, selbst die Dauer einer Sitzung war flexibel – anders als am zentral gelegenen Collège de France, wo Kollege Foucault seine Redezeit von 90 Minuten stets genau einhielt. Deleuze’ Vorlesungen, so Stingelin, „wogten zwischen ihm und dem Publikum hin und her, bald stürmisch die konzeptuelle Arbeit in eine gemeinsame Richtung vorantreibend, bald tumultuarisch und Nerven aufreibend, weil Deleuze keine einzige Intervention zurückwies“. Zwischenfragen waren Teil des Experiments – mögliches Scheitern inbegriffen.
Stingelins Bild von den wogenden Veranstaltungen hält sich eng an die Emphase, mit der Deleuze selbst seine Vorlesungen beschrieben hat. Sie waren ein „Stoff in Bewegung“, sagte er einmal, oder „ein bisschen wie ein Rockkonzert“. Stingelin wäre ein langweiliger Philosophiehistoriker, erläge er der Versuchung, einen akademischen Lehrer zu schildern, der brav die antiautoritären Lektionen des Pariser Mai 68 umsetzte. Nein, sein Essay analysiert vielmehr die „Geste“ des deleuzianischen Unterrichtens, das heißt „Zeichen, durch die sich ein charakteristischer Lebens-, Denk- und Arbeitsstil zu erkennen gibt“. Diese Zeichen lassen sich mit Recht als integraler Bestandteil des Denkens von Deleuze begreifen. Schließlich liegt seine Pointe gerade in dem Paradox, dass sich die Philosophie nicht auf das Philosophische beschränkt, sondern sich erstreckt auf das Nichtphilosophische: die Erfahrung, das Sinnliche.
Doch worin besteht sie nun, die Geste von Deleuze? Die Lust am Experiment gehört dazu und der Humor, der „die Zuhörerinnen und Zuhörer aus ihrem Schlummer schreckt“; vor allem aber sein radikaler Interventionismus. Denn letztlich, so Stingelins These, lassen sich Deleuze’ Vorlesungen als „einzige große Intervention“ begreifen – gegen eine Philosophie, die begriffliche Konzepte ihrer Kraft beraubt, Probleme aufzuwerfen. Damals hatte Deleuze dabei die Schule der analytischen Philosophie vor Augen. Heute könnten auch die voreiligen Mythologen des Netzes damit gemeint sein.
Martin Stingelin: „Das Netzwerk von Gilles Deleuze“. Merve Verlag, Berlin 2000, 139 Seiten, 18 DM. – Die Vorlesungen sind zugänglich unter www.imaginet.fr/deleuze
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