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Ein tanzendes Elefantenweibchen

Zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches ist ganz Weimar auf den Beinen – die Begleitausstellung hat trotzdem ein stiller niederländischer Gelehrter namens Raymond Benders zusammengestellt, weil er doch selbst „Philosoph sei“

von FRITZ VON KLINGGRÄFF

Sechs unbekannte Nietzsche-Briefe, verborgen in einem versiegelten Schrank am Ende einer langen Flucht von leeren Zimmern. „Im ersten Zimmer stand gar nichts. Im zweiten Zimmer lag eine Matratze. Im dritten Zimmer stand nur dieser Schrank.“ Das könnte sich jetzt zu einer Geschichte ausweiten. Aber natürlich bricht am Ende das Siegel, der Schatz wird entnommen und befindet sich jetzt im Besitz des Erzählers. „Als Kopie“, sagt Raymond Benders mit müden Augen, „später dann schickte mir der Mann, dessen Namen ich Ihnen hiermit nicht nenne, doch eine Kalligrafie vom Gondellied, das Nietzsche 1889 im Gotthardtunnel sang.“ „An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang“: Das Lied des Wahnsinnigen bei seiner Rückkehr nach Deutschland.

Friedrich Nietzsche in Weimar. Das sind 1.001 Geschichten aus dem Buch vom Hund mit Augen, groß wie Mühlräder. Geschichten eines Kults und unzähliger Initiationen, die im Akt ihrer Verwerfung je neu sich konstruieren. In Weimar liegt der Hund begraben und kommt nicht zur Ruhe. Hier liegen die Reliquien, liegen die Handschriften, vermodern die Erstausgaben, verkommt Nietzsches Bibliothek. Hier im Nachwende-Weimar dräuen und drängen die neuen Nachlassverwalter eifersüchtig und intrigant wie einst Nietzsches Schwester Elisabeth. Zu Ehren der Jugend und der fröhlichen Wissenschaften gründen sie, gestern wie heute, Nietzsche-Foren und Nietzsche-Kollegien, süchtig nach Staatsknete und raunend von einem „freien Ort für freie Geister“ und dem „Dämon“ im Werk des Philosophen, wie es Rüdiger Schmidt, „Leiter“ und alleinige Halbtagskraft im Weimarer Nietzsche-Kolleg nennt. Dafür werden sie in Weimar als „die Montinari-Laien-Kirche“ (nach dem letzten Nietzsche-Herausgeber) verspottet. Und nun also hier, zur Krönung, „Nietzsches Leben und Werk“, die große Ausstellung zum 100. Todestag des Philosophen.

Ganz Weimar ist auf den Beinen, nur Raymond Benders, Sammler und Erzähler, kommt nicht von hier, sondern war ziemlich viel unterwegs in der Welt. In Sils Maria fand er das Augenpulver eines Herren van Hassel, das dieser dem Philosophen zugesteckt hatte. Der Mythos machte daraus die Prise Heroin eines Holländers, der Friedrich Nietzsche solcherart in den Wahnsinn trieb. In Gauting bei München fand Raymond Benders die Olden-Zeichnung vom kranken Nietzsche, kurz vor dem Tod. Schön und traurig hing sie unter dickem Spinnengeweb an der Wand eines Ateliers, das fünfzig Jahre lang kein Mensch mehr berührt hatte. „Ich will, dass sein Leben dokumentiert wird“, sagt Raymond Benders vor Elisabeth Förster-Nietzsches schwarzem Spitzenjäckchen im zweiten Geschoss des Schiller-Museums. Daneben das Waschporzellan der Nietzsches, Bauerngeschirr in Rotweiß. Aber dieser Plunder kommt aus dem Goethe-Nationalmuseum hier in Weimar, und außerdem, sagt Raymond Benders, um das mal klarzustellen: Außerdem sei seine Geschichte nicht die eines Sammlers. Viel mehr sei er doch Philosoph, sagt der Niederländer, nicht in gebrochenem, aber doch in leisem Deutsch.

Bundes-Ostereier fürdas Nietzsche-Dorf

Raymond J. Benders, Architekturwissenschaftler und Philosoph („Die Nietzsche-Rezeption 1885 bis 1918“), redet nicht vor den Leuten. Da nämlich muss man laut und bedeutend reden und am Stehpult stehen. Wie zum Beispiel jetzt Knut Nevermann, Naumanns Abgesandter der Bundesrepublik Deutschland: „Ich schließe mich allen Ausführungen an.“ Dann murmelt der schöne Herr Nevermann noch etwas von „Ostereiern“ fürs Nietzsche-Dorf. Das versteht hier keiner so richtig, selbst der Veranstalter von der Stiftung Weimarer Klassik, Andreas Schirner, ist überrascht. Aber es scheint wohl um Staatsknete für Rüdiger Schmidts „Dämon“ zu gehen.

Später erzählt Raymond Benders, dass sein Konzept für den Ausstellungskatalog schon 1983 beim Hanser Verlag vorlag. Aber dann musste er erst mal Geld verdienen und die Publikation wurde aufgeschoben. Jetzt hat das Buch 850 Seiten und ist eine Nietzsche-Chronik in Text und Bild. Rund 1.000 Bilder kommen aus dem Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar, rund 1.000 Bilder kommen aus dem Bestand der Sammlung Benders. „Zwölf Bananenkisten“, heißt es gern in umzugsgestählter Prägnanz aus dem Munde des Verleger- und Kuratoren-Teams –, und jeder muss sich jetzt vorstellen, wie viel Bananendüfte und wie viel Hausstaub Oettermann und Reich einatmen durften, damit dieses künftige Standardwerk der Nietzsche-Forschung hier nun vorliegen darf.

Am Rednerpult steht inzwischen Rüdiger Safranski, auch ein Philosoph, so wie Herr Benders. Im Gegensatz zu seiner Vorvorrednerin, Dagmar Schipanski, Kunstministerin in Thüringen, spricht Safranski fast frei. Das hat etwas mit den Realien zu tun, wie man schon bei Nietzsche nachlesen kann. Ein flüsternder Verdacht macht nämlich die Runde: Das Typoskript von Dagmar Schipanski wurde wahrhaftig noch mit Schreibmaschine geschrieben – Zwölf-Punkt-Schrift/einfacher Zeilenabstand. Also lässt Thüringens Kunstministerin den Finger laufen und nickt beim Reden mit dem Kopf zwischen Publikum und Papier hin und her: „Ob das Nietzsche-Kolleg und die heute eröffnete Ausstellung Erfolg“ – nick – „haben werden, kann noch nicht mit absoluter Sicherheit behauptet werden“ – nick, nick. Soo wunderbar spröde also spricht die Kunstministerin Dagmar Schipanski.

Der Philosoph Safranski hingegen präferiert den doppelten Zeilenabstand. Das ist die Norm, auch wenn sich dabei in den Rede-Habitus eine unschöne Abweichung zum halb blinden Nietzsche am Katheder einschleicht („... sein Vortrag fußte ganz auf dem geschriebenen Hefte“, Wackernagel in der Erinnerung 1908). Aber Nietzsche ist seit dem 24. August 1900 tot. Da starb er auf seinem Hügel vor Weimar in der Villa Silberblick. Rüdiger Safranski dagegen besitzt heute die Freiheit, auch mal Betonungen zu setzen, ohne gleich den Faden des Fließtextes zu verlieren. Dabei spricht er von Nietzsches Leben. In seinen besten Augenblicken, findet der Philosoph, sei Friedrich Nietzsche zu einer tänzerischen Leichtigkeit gelangt, die auch für seine „teilweise furchtbaren Gedanken“ entschädige. Von diesen aber solle hier nicht die Rede sein.

Nackte Experimentevor der Hauswirtin

In Turin, sagt die Legende, tanzte Nietzsche nackt und mit erigiertem Glied durch sein Zimmer, und seine Hauswirtin schaute staunend zu. Leben als Experiment des Erkennenden, sagte Nietzsche –, „wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein.“ Der scheidende Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, Günther Seifert, findet, dass diese einstimmenden Worte „ganz fantastisch“ zur Ausstellung passen.

Vor Jahren schon nämlich hatte man hier sich in Weimar entschieden: Nicht Nietzsches Weimar-Geschichte, die Geschichte des Nietzsche-Archivs, sollte es sein, mit der sich das Städtchen zum 100. Todestag seines Dichter-Philosophen ein Denkmal setze. Denn mit Nietzsche in Weimar lassen sich nur schwerlich Lorbeeren gewinnen. Verschleppte die Schwester den Wahnsinnigen doch erst Anfang der Neunzigerjahre in die Klassikerstadt und zimmerte dann hier den bekannten Mythos nebst Mussolini drumherum: Die Geschichte eines Genies und seines Hauptwerkes, dem „Willen zur Macht“.

In Weimar erfuhr und erfährt Nietzsche seither die Farce seiner ewigen Wiederkunft: „Die Legende eines Menschenlebens, dessen Gedächtnis auf unsere Tage gekommen ist (...), die Legende eines Menschen, das ist sein in jedem neuen Heute neu wirksames und lebendiges Bild“, so bedachte ihn Ende des Ersten Weltkrieges Ernst Bertram in seinem „Versuch einer Mythologie“. An diese Weimarer Geschichte eines Philosophen, der sich selbst zum Werk werden wollte und zum Wiedergänger wurde, trauen sich in Weimar noch heute nur wenige ran. Also wurde der renommierte Kurator Stephan Oettermann beauftragt, eine schöne Ausstellung zum Leben und Werk des Philosophen zu machen – und der hat das in seiner routinierten Art auch hingekriegt. Für die nächsten acht Monate ist im Schiller-Museum eine Dokumentation über Nietzsche zu sehen, die kaum einen Wunsch offen lässt. Das Leben als Eisenbahnreise, eine Chronologie in neun „Abteilen“ oder Lebensräumen; das ist ein ausgereifter Topos, das funktioniert. Von Turin aus lässt Oettermann Nietzsche auf sein Leben zurückblicken, und dieser erblickt ein Leben voller Banalitäten, ein Leben in Koffern. Die Kindheit im Naumburger Frauenhaushalt, die Schulzeit in Pforta.

Dann tauchen hinter und aus den Stellwänden Pferdeköpfe auf: Mit zunehmender Blindheit, mit nachlassender Außen-Wahrnehmung verdichtet sich die Innen-Wahrnehmung. Im Basler Lebensraum ist die Ausstellung zwischen den Büsten von Apoll und Dionysos und vor einem großen Makart-Gemälde („Der Triumph der Ariadne“) schon im Imaginären des Philosophen angekommen: Cosima Wagner und die „Geburt der Tragödie“. In Sils Maria werfen ihm Buben Steinchen in den gefalteten Schirm; durch dicke Brillengläser sehen die Ausstellungsbesucher vor dem Panorama des Engadin qua Umkehrung, wie viel Gesichtssinn dem kranken Philosophen noch möglich war. Dann der Turiner Bahnhof mit Fisch und Elefant auf kleinen Sockeln. Das ist schön und realisiert Nietzsche als den, der er war: „Ich bin ein fliegender Fisch und berühre nur mit den Schwingen die Wellen“, „bin das Krickelkrakel einer Feder“, „ein Elefantenweibchen“, „bin die Schreibkugel von Eisen – sieht so solide aus, ist gleich wieder kaputt.“

„Wann ist der Gotthardtunnel fertig – Friedrich Nietzsche. Leben und Werk“, bis 31.12., im Schiller-Museum Weimar. Das Begleitbuch „Friedrich Nietzsche – Chronik in Bildern und Texten“, hrsg. von Raymond Benders und Stephan Oettermann, ist im Hanser Verlag erschienen (geb., 1000 Seiten, 98 DM) oder als Paperback bei dtv, 48 DM.

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