: „Hunderttausend Hudeley“
Die Jubelfeiern haben gerade erst begonnen. Doch wer lässt sich im Bachjahr 2000, ein Vierteljahrtausend nach dem Tod des großen Kirchenmusikers, überhaupt noch ein auf dessen Werk? Wer spielt, wer hört diese Musik noch richtig? Ein Plädoyer gegen den Ausverkauf
von JOHANNES PAUSCH
1685 geboren, 1750 gestorben – das heißt bei einer Zelebrität Bachschen Formats: Alle fünfzehn und fünfunddreißig Jahre im Wechsel wird gejubelt. 2000 wurde gar das Superbachjahr ausgerufen. Die Erwartungen indes werden sich bei weitem nicht erfüllen, so viel steht jetzt schon fest. Liegt es vielleicht daran, dass wir Bach nicht mehr hören können?
Da wir, und dies wäre schon das schwerwiegendste Dilemma, allesamt Augenmenschen sind, somit fürs Musikhören schon verkrüppelt, greifen Bachvermarkter gern zu optischen Tricks. Hierbei macht’s keinen Unterschied, ob es sich, wie in Leipzig, um „Bach in Tüten“ handelt oder um die „Frage nach Bach in heutiger Sicht“. Moderne Kultur verlangt nach Konzepten, und da ist es nun nicht mehr möglich, dass du einfach daherkommst und nur etwas hören möchtest. Eine Matthäuspassion im modernsten Falle läuft nicht mehr ohne wenigstens John Neumeier oder Theo Altmeyer.
Synästhetik ist eine an verschiedenen Stellen des vergangenen Jahrhunderts – etwa wäre an den Maler Wassily Kandinsky, den Philosophen Georg Picht zu denken – als zartes Pflänzlein erblühte, jedenfalls bis heute lange noch nicht zu voller Höhe emporgerankte Wissenschaft. Angewandte Synästhetik gar – und das klingt ja wie eine Schlüsselwissenschaft des 21. oder 22. Jahrhunderts –, ist gegenwärtig noch überhaupt nicht vorstellbar. Wir beziehen uns also, wenn wir beispielsweise von Farbtönen, von Klangfarben reden, auf eine noch nicht näher aufgeklärte Wirklichkeit.
Auf der anderen Seite ebendieser Wirklichkeit steht der merkwürdige Umstand, dass Blinde besser hören als Sehende, und da greift nun wohl die landläufige Kompensationstheorie ein wenig zu kurz; der Blinde wird zwar nicht synästhetisch von seinem Gesicht unterstützt, er wird aber eben auch nicht von optischen Reizen in seinem Hören behindert. Die szenische Bachkantate, der begehrte Sitzplatz, an dem man gut sieht, belegen gleichermaßen: Das Hören, doch eigentlich exklusives Medium Bachscher Musik, hat längst nicht den höchsten Rang. Wenn wir in diesem elementaren Sinne Bach nicht mehr hören können und wollen, dann wird das Bachjahr 2000 ebenso floppen wie das Goethejahr 1999.
Nicht dass es mir wirklich leid täte um den ausbleibenden Erfolg der Superlativschreier – obwohl, ein paar Arbeitsplätze gesichert zu haben in Leipzig und anderen „Bachstätten“, das mag kein Geringes sein in heutiger Zeit. Das Klippklapp der Jubiläen ist aber wohl einfach zu eng, um jedesmal den Nimbus des ganz Besonderen zu garantieren. Die Attraktivität kann nicht nach Kalenderlage erzeugt werden, sie kann lediglich aus der Musik selbst, aus irgendeiner Art von Beschäftigung mit ihr entstehen. Legen wir also das Problem, wie könnten wir Bach hören, ad acta? Nein und ja.
Nein, und ich bitte sofort um Nachsicht für ungewohnte Reihenfolge und ein erst in weiterer Ferne anschließendes Ja: Ohne dass wir auf einen Impuls aus der Bachpflege, wie oben angedeutet, auf ein neues Erweckungswunder warten müssten, lassen sich einige der Voraussetzungen angeben, unter denen ein neues Hören dieser Musik möglich würde – freilich auch eine ganze Reihe objektiver Schwierigkeiten, die dem im Wege stehen. Und es lassen sich Punkte benennen, bei denen hier zu Lande einiges sehr, sehr im Argen liegt.
Wer Voraussetzungen für das Hören Bachscher Musik aufweisen will, wird unweigerlich auf den Einwand stoßen, dies sei doch absolute Musik, mithin – neben allen möglichen anderen Bedeutungen, die diesem Terminus noch beigelegt werden – Musik, deren Hören an keine Voraussetzungen gebunden ist. Man wird sich erinnern, dass in der DDR-Musikgeschichtsschreibung allerlei Komponisten sogar bereits des 17. Jahrhunderts in die Nähe der Frühaufklärung gerückt und damit zu „Wegbereitern“ gemacht wurden, und mir ist – ich will mich da aber gern belehren lassen – nur ein einziger Fall bekannt, wo der mutige Dresdner Gelehrte Wolfram Steude diesem ahistorischen Unsinn entgegengetreten ist.
Das Postulat, Bach habe absolute Musik geschrieben, voraussetzungslos sozusagen von jedermann hörbar, wäre gleichbedeutend mit der Aussage, in seiner Musik seien die Klassenschranken niedergetreten. Insoweit beweist sich diese Rede von der absoluten Musik als bourgeoise Affirmationsformel des 19. Jahrhunderts. Bemühungen, absolute Musik in diesem gemeinten Sinne zu komponieren, finden wir wohl erst bei François-Joseph Gossec während der französischen Revolutionsjahre (zum Beispiel „Peuple, éveille-toi“, Text: Voltaire).
Wenn wir also Voraussetzungen überhaupt zulassen, dann treffen wir auf vielschichtige historische Bezugssysteme, in die diese Musik eingebettet ist. Das klingt so abstrakt, dass der präsumptive Höreleve erschrocken fragen wird, ob er das überhaupt hören würde. Zum Teil ja, ohne weiteres. Zum Teil können diese Voraussetzungen auf eine sehr subtile Art hörbar gemacht werden. Zum Teil wiederum ist ein hörender Zugang heute versperrt.
Ohne weiteres hörbar zu machen sind diese Bezugssysteme in dem Bereich, den wir mit Wiedergewinnung eines barocken Klangbildes beschreiben. Hier hat sich seit Paul Hindemiths Rede auf dem Hamburger Bachfest 1950 sehr viel getan. Hindemith war der damals verbreiteten Vorstellung entgegengetreten, Bach hätte recht eigentlich das Beethovensche oder gar Wagnersche Orchester vorgeschwebt. Nein, so Hindemith, die feinen klanglichen Gewichtsverteilungen in Bachs Musik vertrügen nur kleine Instrumentalgruppen. Wir müssten die damaligen Aufführungsbedingungen wiederherstellen, und das hieße unter anderem: Streich- und Blasinstrumente in damaliger Bauart, Rekonstruktion der Instrumentenstimmung, keine riesigen Chöre.
Seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat sich nun eine Vielzahl von Ensembles formiert, die eine Aufführungspraxis wie in der Bachzeit beherzigen. Wenn dieses also auf hohem Niveau passiert, dann kann auch das unbewaffnete Ohr Qualitätsunterschiede wahrnehmen, beispielsweise im Vergleich von Aufnahmen des Bachcollegium Japan mit Aufnahmen des weiland Münchener Kantors Karl Richter. Die Musik gewinnt an Plastizität zurück. Vieles, was Musiker auf modernen Instrumenten absolut nicht spielen können, fällt auf den alten Instrumenten sehr leicht.
Von den hier gewonnenen Erkenntnissen ist an der so genannten Basis allerdings wenig angekommen. Neunzig Prozent der deutschen Kantoren, eigentlich von Amts wegen zur Pflege Bachscher geistlicher Musik berufen, sind mit der Aufführung seiner Kantaten überfordert. Zusammengepfuschte Sparversionen bestimmen weithin unsere Kirchenkonzerte, und man fragt sich, ob eher die landum grassierende Finanzerosion der Kirchen oder ein sich als Gutherzigkeit schlecht tarnendes Unvermögen der KantorInnen für diese Sumpfblüten zur Rechenschaft zu ziehen ist.
Etwa wenn bei einer Aufführung der Kantate „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ ein stark überalterter Kirchenchor von um die fünfzig Leuten gegen ein einfach besetztes Ensemble von Hobbymusikern antritt, wobei in der Regel eine auch nur einigermaßen erträgliche Ausführung von Grundtönen, Terzen und Quinten ebenso wenig erwartet werden kann wie das Vorhandensein aller in der Partitur verzeichneten Instrumente – von einigen wird der betreffende Kantor wahrscheinlich noch nie gehört haben, geschweige, dass es ihn interessierte. In dem betreffenden Fall überschrieb die Rezensentin ihren Text mit einem Abschnitt aus dieser Kantate: „Es hat die Dunkelheit an manchen Orten überhand genommen.“ Noch grausamer wird’s, wenn man etwa einen Vorspielabend in einer typischen deutschen Jugendmusikschule besucht. Hier besteht schon eine bedenkliche Ignoranz dem gegenüber, was wir heute über die Aufführung Bachscher Musik wissen können.
Ein weiteres Bezugssystem stellt die Musik in Bachs frühem Umfeld dar. Durch die Bildung des Terminus „Thüringischer Kleinmeister“ hat man gezielt versucht, dieses Umfeld zu verschatten. Bachs große Anreger, Johann Pachelbel und Johann Rudolf Ahle, um nur zwei zu nennen, wurden damit quasi auf Westentaschenformat gestutzt, vielleicht um Bachs Stern desto heller strahlen zu lassen? Dieser Zweck dürfte verfehlt worden sein. Denn diese ganz und gar nicht provinziellen Komponisten, von deren Vokalwerken bisher kaum Ausgaben existieren, haben durchaus spektakuläre Musik hinterlassen. Das Spektakuläre in Bachs Musik erhält eine andere, erst wahrhaft spektakuläre Dimension, wenn wir diese Anreger sozusagen „mithören“ können.
Ein weiteres Bezugssystem wird gebildet durch das Verhältnis zwischen Text und Musik bei Bach. Hier hat sich im Gefolge Carl von Winterfelds seit dem 19. Jahrhundert die Meinung etabliert, die Musik Bachs sei großartig – wer wollte das auch bestreiten? –, aber diese schrecklichen Texte! Bachs Textdichter muten uns eine Menge zu. Diese Texte sind aber keine autonomen Kunstwerke, für die Bach selbst nicht verantwortlich gemacht werden könnte. In der Regel war nämlich der Kantor Auftraggeber für die Kantatenlibretti. Wenn der Komponist Bach sich etwa von Bildern barocker Todessehnsucht – „Wohl denen, die im Sarge liegen“ – entzünden ließ, dann mögen wir das heute kaum nachvollziehen. Andererseits bekommen wir das Worttonverhältnis bei Bach überhaupt nicht in den Blick, wenn wir uns bei seinen Texten nur immer voller Grausen abwenden. Hier ist wohl nur schwer fortzukommen.
Die geistliche Musik Bachs ist von ihrem eigenen Verständnis her ferner verankert im Lebensvollzug der gläubigen Gemeinde, im Vollzug des Kirchenjahres. Eine Kantate beispielsweise zum siebzehnten Sonntag nach Trinitatis ist bezogen auf die Theologie dieses Sonntages, auf seine Lesungen und Gebete. Die evangelische Kirche hat durch die Reform der Lektionspläne in den Achtzigerjahren diesen über Jahrhunderte gültigen Rahmen, an dem die gesamte Kirchenmusik bis dahin festmachte, achtlos abgetan, wohl in dem Irrglauben, mit einer Anbiederung an den modernen Zeitgeist verlorene Schäflein zurückzuholen. Damit hängt der größte Teil der Kantaten sozusagen in der Luft. Was der Prediger Johann Sebastian Bach uns zu sagen hätte, wird von der Kirche nicht mehr aufgeschlossen.
Bei solchem Befund mag es nun überraschen, dass doch Bachs Musik uns so selbstverständlich erscheint. Vielleicht sollen wir also doch das Problem mal ad acta legen, und zwar insgesamt, für eine gewisse Zeit. Keinen Bach hören, keine Note, ein (Bach-)Jahr lang. Und dann beginnen wir – es darf auch etwas anderes sein, aber sagen wir – mit den ersten Takten der Orgelpassacaglia. Vollkommenes Gleichmaß von Ordnung und Verschlingung. Könnte sich dann nicht ein kleines Wunder ereignen?
JOHANNES PAUSCH, 47, arbeitet seit zwanzig Jahren als Kantor und Musikpublizist in Hamburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen