Nach der Explosion

Ein russisches Dorf, am Ende der Geschichte: Dmitri Bakin entdeckt in seinem Erzählband„Die Wurzeln des Seins“ den Stillstand. Seinem Präsidenten würde das nicht gefallen

von KOLJA MENSING

Zuerst eine wahre Geschichte: Wladimir Putin, der amtierende Staatspräsident Russlands, hat ein Buch geschrieben. Es heißt „In der ersten Person“, und darin schreibt er: „Unser erstes und hauptsächliches Problem ist die Willensschlaffheit.“ Wladimir Putin, so geht es dann weiter, möchte Russland zu neuem „Glauben an die eigenen Kräfte verhelfen“, und er findet: „Es ist höchste Zeit, dass wir in direkte Tuchfühlung mit den Problemen treten.“ Was man sich unter „direkter Tuchfühlung“ vorzustellen hat – das ist der traurige Teil dieser wahren Geschichte –, sieht man abends im Fernsehen in den Reportagen aus Grosny.

Die zweite Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist erfunden: Krainow, der Landvermesser mit den zwei Söhnen und neun Töchtern, hat seinem Staat vor langer Zeit Geld geliehen. Während er auf die Rückzahlung dieser Anleihe wartet, entdeckt er an sich selbst „einen hartnäckigen, unerschütterlichen Glauben an den Staat, die Union, wobei er indes seinen Unglauben an den einzelnen Menschen unverrückbar beibehält“. Das ist der Anfang der Geschichte; bis hierhin würde sie Wladimir Putin sicher gefallen.

Die Geschichte von Krainow, dem Landvermesser, stammt aus Dmitri Bakins Erzählband „Die Wurzeln des Seins“. Dmitri Bakin, ein junger russischer Schriftsteller, erzählt von Menschen, die die gleichen Träume träumen wie Wladimir Putin, nur dass Bakin seine Figuren diese Träume zu Ende träumen lässt – bis sie zu Albträumen werden. Krainow, der Landvermesser, zum Beispiel wird in seinem Glauben an den Staat und die Gesetze enttäuscht und macht sich – das ist der traurige Teil dieser erfundenen Geschichte – zum neurotischen Privatdiktator in seiner Familie, im „geschlossenen Raum des ausgedachten winzigen Staatswesens, wo alles, inklusive der Staub, ihm allein untertan war“ und „wo ein Aufstand der Menschen undenkbarer war als ein Aufstand der Gegenstände“.

Krainows Rückzug in die Familie ist ein hilfloser Akt – genauso hilflos wie der Versuch vom armen Klischin, der „sein Nachkriegsleben in Ermangelung eines Feindes in unerbittliche, zielstrebige Selbstzerstörung“ verwandelt und seinen sechsten Zeh, den ihm die Ärzte im staatlichen Krankenhaus nicht entfernen wollen, mit einem Hammer und einem Stemmeisen selbst amputiert. Seine Nachbarn sehen darin den „Triumph des menschlichen Geistes über den physischen Schmerz“, doch die Metapher ist eine andere: Dmitri Bakins Erzählungen zeichnen das Bild einer verstümmelten Gesellschaft. Seine Figuren sind halb blind oder taub, haben nur ein Bein oder einen Arm. Sie sind Kriegsversehrte, Alltagsinvaliden, und die schöne Anna, der gefallene Engel in dem russischen Dorf, in dem Bakins Geschichten spielen, sagt: „Niemand hat uns ins Leben gerufen. Wir sind das Produkt einer Explosion.“

Es ist wie bei den Sternen, die in einer letzten Explosion in sich zusammenfallen, es bleibt ein Schwarzes Loch: Die Erzählungen des 1964 geborenen Dmitri Bakin drehen sich wie Wasserstrudel um eine dunklen, verborgenen Kern, in langen, kunstvollen Perioden, die immer enger und zwingender werden, und Dialoge gibt es kaum. Das ist schön, das ist traurig, und es macht hilflos. Man weiß eigentlich nicht, wo man hinsoll mit Bakin. Er hat so gar nichts von seinen postmodernen Schriftstellerkollegen, die – verspielt, obszön oder wütend – seit Ende der Achtziger den Zerfall der russischen Gesellschaft beschreiben und die man auch hierzulande in den letzten Jahren gelesen hat: Wladimir Sorokin zum Beispiel oder Wiktor Pelewin.

Dmitri Bakin dagegen ist bereits in der Posthistoire angekommen. Er schreibt über Figuren, die alle russischen Explosionen zwischen 1917 und 1989 hinter sich gelassen haben, die noch nicht einmal einen Fernseher haben, um die aktuellen Katastrophen in ihrem eigenen Land und im Rest der Welt zu verfolgen, und die jetzt in einem bedrückenden, provinziellen Stillstand dahindämmern: „Für euch hat Bewegung Sinn. Für mich liegt der Sinn in der Unbeweglichkeit“, sagt der Erzähler in der letzten Geschichte des Bandes, der einzigen, die in der ersten Person geschrieben ist. In diesem Satz könnte man eigentlich ein Gegenprogramm zu Wladimir Putins militaristischem Programm der neuen russischen Willenskraft sehen. Doch bei Bakin ist es nur der Satz eines Sterbenden.

Dmitri Bakin: „Die Wurzeln des Seins“. Erzählungen. Aus dem Russischen von Birgit Veit. Volk und Welt, Berlin 2000, 172 Seiten, 28 DM