: Der Abdruck vieler Finger
■ Mit markigen Sprüchen regiert Albert Linnemann seinen Stand am Bischofstor / Die Lizenz dafür hat sein Vater „Hein Blitz“ erworben - für kaputte Beine im 1. Weltkrieg
Wenn man den Stand vor dem Kennedy-Platz am Eingang der Wallanlagen nicht sehen könnte, würde man ihn hören. „Erdbeeren? Die kosten fünf Mark, für Sie 'ne Mark, Sie sind mir sympathisch.“ Ohne einen flotten Spruch kommt bei Albert Linnemann kein Kunde davon. Er philosophiert lauthals (“Ich mach das hier nicht wegen Geld, ich mach es gerne“), schimpft (“Lassen Sie die Finger von den Bananen – die werden davon nicht besser“) und auch der Ton, mit dem er seine Frau Renate Linnemann und seine fünf Angestellten instruiert, ist nicht grade zimperlich (“Den Chicoree in zwei Reihen, Mensch, ich hab's dir doch gezeigt.“)
Das strenge Regiment, das Herr Linnemann führt, hat er garantiert bei seinem Vater Heinrich abgekuckt, von dem er den Obst-, Gemüse- und Blumenstand übernommen hatte. Mit dem war wohl nicht immer gut Kirschen essen. Drei Söhne hat er im Kindesalter zur Arbeit am Stand verdonnert, Albert Linnemann hat vom frühen Kistenschleppen eine Wirbelsäulenverkrümmung. „Ich hätte damals gerne was gelernt, aber das durften wir nicht. Mein Bruder hat durchgesetzt, da er Tischler werden konnte und selbst das gab harte Auseinandersetzungen.“
Aber Albert Linnemann will sich nicht beklagen. Sein Vater sei eben ein Kämpfer gewesen, sagt er und der Mythos des Vaters beginnt mit einer Verletzung aus dem 1. Weltkrieg. Nachdem er in Frankreich verschüttet wurde, kehrte er mit zwei offenen Beinen nach Bremen zurück, wo wiederum sein Vater einen Findorffer Kolonialhandel fhrte. Als Kind aus erster Ehe muss es ihm dort nicht gut gegangen sein – trotz seiner Verletzungen machte er sich „selbständig“ mit einem Handkarren voller Obst, das er am damals noch viel kleineren Fruchthaus abholte und auf seiner Tour durch Schwachhausen und die Wallanlagen verkaufte.
Heinrich Linnemann ist seit 16 Jahren tot, seine heute 81-jährige Frau, Alberts Mutter, wohnt nur ein paar Meter vom Stand und weiß noch alles ganz genau. „Stehenbleiben durfte er nur, wenn er was verkauft hat. Er ist den ganzen Tag gelaufen und hat sich nie beschwert“, bewundert sie ihn bis heute. „Am Fruchtschuppen nannten sie ihn nur Hein Blitz: Kaum hatte er den Wagen voll geladen, war er auch schon weg.“ Als er auf seinen Touren merkte, dass das Geschäft am Bischofstor besonders gut lief, beantragte er einen festen Stand. Obwohl schon etliche vor ihm abgewiesen wurden, bekam er – aus Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand – die Genehmigung von der Stadt.
Seit 1918 betreibt Familie Linnemann den festen Stand – vor wechselnder „Kulisse“. Brandbomben haben im 2. Weltkrieg die Häuser zwischen Fedelhören und Contrescape zerstört. Wo jetzt das Staatsarchiv steht, war früher ein Reitstall, erzählt Johanna Linnemann. Die Umbauten, die die Wallanlagen anlässlich des 200-jährigen Jubiläums im Jahre 2002 derzeit erfahren, scheinen sie nicht mehr sonderlich zu interessieren. Ihren Sohn Albert schon, immerhin hat er Gerüchte gehört, wonach sein Stand die Sichtachse Rembertistraße – Wallgrabenstraße und deswegen an anderer Stelle und in einem feudaleren Outfit eröffnen soll.
Albert ist der jüngste Sohn von Johanna Linnemann. Bis vor kurzem hat sie noch selbst mitgearbeitet – seit sie 1940 den zwanzig Jahre älteren Heinrich geheiratet hat, rankt sich auch ihre Lebensgeschichte um Obst und Gemüse. Fünf Kinder hat sie im Krieg auf die Welt gebracht – jedes Jahr eins. Nachdem das Wohnhaus der Linnemanns 1944 ausgebombt war, ist ihr letztes Baby in einem Oldenburgischen Unterbringungslager mit kaum drei Monaten erfroren – „da wollt' ich nicht mehr leben, aber ich hatte ja noch die anderen.“
Auch der Obststand war nach dem Krieg zerstört – aber wenigstens ist Vater Linnemann vom Dienst an der Front verschont worden. Eingezogen hatten sie ihn, „aber er hat da glaub' ich viel gesoffen, und zum Appell ist er wegen seiner Beine mit dem Schemel angetreten – er wollte einfach nicht mehr in den Krieg.“ Und er hatte es auch nicht mit den Nazis. Dreimal wurde er vorgeladen ins Gauleiter-Büro am Steinernen Kreuz: Die Fahne, die er aus dem Fenster seines Hauses im Grünenweg hängen sollte, mutierte dem Sozialdemokraten unter der Hand zum roten Laken mit einem mikroskopischen Hakenkreuz, und im Wirtshaus hat er den „Volksempfänger“ abgestellt, wenn Goebbels gesprochen hat. Seine Verletzung und seine vier Kinder haben ihn vor schlimmeren Strafen bewahrt, glauben seine Frau und sein Sohn.
Albert Linnemann ist auch Sozialdemokrat, seit dreißig Jahren. Und als ob er den Bürgermeister täglich träfe, schmunzelt er: „Der Henning, der mag das nicht mehr, wenn ich 'Genosse' zu ihm sage.“ Aber dessen Frau, die stellt sich in die Schlange wie jeder andere. Schließlich – da ist Johanna Linnemann sicher – „ist sie auch nackend zur Welt gekommen“. Mit hanseatischem Stolz freut man sich über die Kundschaft aus besten Kreisen – früher Wilhelm Kaisen, heute Koschnick und Scherf, aber letztlich – das wissen auch die Linnemanns – macht das den Kohl nicht fett.
Die Masse bringt es und die steht täglich Schlange. Gemüse, Obst und Blumen kosten hier nur rund ein Viertel des normalen Preises. Jeden Vormittag von Dienstag bis Freitag verkaufen Albert Linnemann und seine Frau Ware, die in anderen Läden nicht mehr angeboten wird. „Zu reif“, sagen die. „So ein Schwachsinn“, sagt Linnemann. Das sei eben typisch deutsch, dass die Melone, wenn sie „richtig saftig ist und gut schmeckt“, aussortiert wird. Und wenn er eines hasst, dann sind es die „Grabbelfinger, mit denen die Leute alles anfassen.“
Bei ihm ist das streng verboten und damit er die Leute an seinem Stand nicht dauernd anblaffen muss, hat er für das Spruchband am Stand tief in die Reimkiste gegriffen: „Viel zu viele Käuferfinger – machen Obstgenuss geringer.“
Elke Heyduck
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