: Dimensionsreise
Magisch Enthaltsamkeit: „Kun Kort Tid (Just Shortly)“ überzeugt bei den „Jungen Hunden“ ■ Von Ulrike Bals
Kosmisches Rauschen erfüllt den dunklen Raum, Brandung eines imaginären Ozeans. Vier Männer verharren bewegungslos in gleißendem Licht. Ganz nah und doch fern bilden sie jene unsichtbare Trennlinie zwischen Bühne und Publikum, Fiktion und Realität. Ihr Atem ist eins, als seien sie die Glieder eines gemeinsamen Organismus. Wie eine Welle pflanzt sich das Zucken eines Muskels auf den halbnackten Körpern der anderen fort. Dann weichen sie auf einmal zurück, Schritt für Schritt, unendlich langsam. Die Ebbe folgt der Flut.
Kitt Johnsons choreografierte Gezeiten „Tide One“, „Tide Two“ und „Tide Three“ verwandeln die Körper der Tänzer in fließende Skulpturen. Dabei gelingt es ihr mit der Auflösung des Individuellen eine größere, universelle Kraft sichtbar zu machen – und damit das lose Kaleidoskop kurzer bis sehr kurzer Stücke von fünf verschiedenen Choreografinnen zu verbinden: Kun Kort Tid (Just Shortly), dänisches Gastspiel des internationalen Tanz- und Theaterfestivals „Junge Hunde“ auf Kampnagel, ist durchwirkt von der Magie der Enthaltsamkeit. Kein eitles Solo, keine Effekthascherei stören den stummen Erzählfluss, durch den die vier männlichen Tänzer Alexander Bondarev, Nicolaj Jespersen, Jean Hugues Miredin und Ari Rosenzweig mit ungeheurer Präsenz und Leichtigkeit gleiten.
Der minimalistische Einsatz der Mittel eint dabei die unterschiedlichen Handschriften der fünf Choreografinnen Pernille Garde, Lene Boel, Sara Gebran, Anne Kathrin Kallmoes und Kitt Johnson. Licht und Schatten formen jeweils den Raum, innerhalb dessen Koordinaten die Bewegungen der Tänzer Zeit und Handlung erschaffen.
Einen actiongeladenen Einstieg gibt Sara Gebrans Hunting Dicks. Zu den abgerissenen Tonsequenzen unidentiffizierbarer Werbespots, Klangcollage Arne Schultz, karikieren drei maskierte Strumpfgesichter das Gerangel um Macht und Anerkennung einer Streetgang. Etwas gewollt witzig, wird Fressen oder gefressen werden dabei wörtlich genommen und lässt die Protagonisten zwischen Gewalt und narzistischer Selbstverliebtheit taumeln.
Der gewaltige Puls, der Jespersens sinnliches Wälzen quer über den Bühnenraum begleitet, scheint unendlich verlangsamt. Johnsons Tide One beschreibt die Zeit des Mondes als das Reich des Tierhaften und Unbewußten, während sie in dem späteren Tide Two die agressive Energie der Sonne reflektiert. Unter ihrem Einfluß vollzieht die Kreatur eine kafkaeske Wandlung, beeindruckend verkörpert von Bondarev: die Mutation zum Menschen.
Hieronymus Bosch und Dante inspirierten dagegen Kallmoeses vier bewegten Bilder Cave, Cave, Deus Videt I-IV. Einem allmächtigen Gott untertan, gleicht Rosenzweig als zappelnder Mensch einer hilflosen Puppe. Wieder und wieder beugt ihn eine unsichtbare Macht, bis sein Versuch sich aufzurichten einem epileptischen Zucken gleicht – ähnlich dem Ringen eines Stotterers um ein erlösendes Wort. Im zweiten Bild kämpft Bondarev gegen Rosenzweig als unbezwingbare Übermacht. Berührungslosigkeit und Narzismus zeichnen die dritte, hysterische Ekstase die vierte der appokalyptischen Visionen. Die blutigen Lippen am Ende erschienen allerdings ganz und gar überflüssig.
Ein Quell der Heiterkeit dagegen, Lene Boels Space Age Zone, in der vier frisch geschlüpfte Androiden in blaßgelben Latex-Tutus von elektronischen Soundimpulsen gesteuert werden. Mit der Anmut unbeholfener Entenkinder watscheln sie über die Bühne und erobern die Herzen der Zuschauer.
Alle Zeit der Welt, ohne je den Spannungsbogen zu verlieren, haben die beiden Schläfer in Pernille Gardes Remembrances. Gleichsam als Träumer und Geträumter, begegnen sich Rosenzweig und Jes-persen in einem surrealen Spiel rätselhafter Verschränkungen.
Mit Kun Kort Tid begibt man sich auf eine kurzweilige Reise in eine andere Dimension – dazu in Begleitung von vier wirklich außergewöhnlichen Tänzerpersönlichkeiten. Und das ist selten.
noch Sa, 6. Mai, 19.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20
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