: Die Leichen tragen Brautkleider
„The rest of you“ von Luc Dunberry – beim makabren Reigen in der Schaubühne ist das Ende gewiss
Nicht weniger als zehn Mord- und Todesarten sehen wir: erschießen, ertränken, zerbeißen, zu Tode lieben, nicht angerufen werden, vergessen werden, in den Abgrund stürzen, vom Dach fallen, am Fleischerhaken erhängt werden, über den Boden wie ein Putzlumpen geschleift werden. Vieles davon ist unerträglich. Einige lachen. Die Art unseres Abgangs von der Bühne des Lebens beschäftigt die fünf Akteure des neuen Schaubühnen-Tanzstücks „The rest of you“.
Treibt die Angst vor dem Tod diesen makabren Reigen an? Oder ist es die Angst vor dem Leben, die den Blick immer wieder auf das Ende, das gewiss ist, lenken muss? Wie auch immer: Die fünf Figuren sind viel zu beschäftigt mit dem Sterben, als dass sie jemals eine Chance hätten, im Leben anzukommen.
Aushalten lässt sich das nur, weil sie gleich zu Beginn als Schießbudenfiguren auf die Bühne kommen, die wie die Pappkameraden auf der Kirmes nach jedem Treffer wieder aufstehen. Das große Finale einer Filmmusik rauscht auf, ein Text läuft rückwärts, die Figuren werden von weißen Vorhängen verschluckt. Spule zurück und alles auf Anfang. Pulp Fiction.
„The rest of you“ ist das dritte Stück des kanadischen Tänzers Luc Dunberry, der seit 1996 mit Sasha Waltz arbeitet. Schon in „anything else“ zeichnete er ein trostloses Bild vom Verfall der Fähigkeit, miteinander zu leben. „The rest of you“, das er mit dem baskischen Musiker und Tänzer Juan Kruz Díaz de Garaio Esnaola als Koregisseur entwickelt hat, ist weniger hart und neigt mehr zum Umschlag ins Absurde. Der zutiefst melancholische Grundton aber bleibt. Als wollten die Tänzer mit Autoren wie Sarah Kane und Lars Norén um den Preis für den schwärzesten Pessimisten konkurrieren.
Am Rande der Bühne bespricht Dunberry anfangs einen Anrufbeantworter wieder und wieder, bis von ihm nur noch die Ansage der eigenen Abwesenheit übrig bleibt. Bald darauf wird er in einem der Duette, die unweigerlich in Gewalttätigkeit enden, ertränkt und später auf dem Dach entsorgt. Diese Behandlung wirkt wie die Rache der Spieler an ihrem Regisseur.
Die Bühne von Heike Schupelies gleicht viel mehr einer offenen Installation denn einem Bühnenbild. Über einem Podest mit gekacheltem Boden pendelt die niedrige Decke, über die Vorhangschienen wie eine Carrera-Autobahn laufen. An ihr rasen die Tänzer mit Stoffen, Folien und Wäschestücken entlang. Einmal schließen sie sich zwischen Folien ein, Dampf steigt aus dem Boden, es gluckert, und die Tänzer hängen schwitzend aneinander mit laut schmatzenden Küssen. Ein andermal spielen sie Verstecken hinter schmalen Fetzen und jagen sich wie Kinder, bis sie plötzlich Spiel von Ernst nicht mehr unterscheiden können. Panisch stürzen sie über den Bühnenrand.
Das Ende des Stücks ist das noch nicht. Passend zum Anfang, der ein Ende war, endet das Stück mit der Verheißung eines Anfangs: Alle tragen Brautkleider, selbst die Leichen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
„The rest of you“, Schaubühne am Lehniner Platz, 6. 5., 16 Uhr, 7. 5., 20 Uhr
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