: Bilderwelten, larger than LIFE
„Das Magazin wird nach einem Rezept gestaltet, das zu gleichen Teilen nach dem enthaupteten Chinesen, dem ausgepeitschten Neger und einem verrutschenden Hemd verlangt.“ Nach 63 Jahren ist damit jetzt endgültig Schluss
aus Washington PETER TAUTFEST
„Life beginns“, das Leben beginnt, lautete die Schlagzeile. Sie eröffnete am 23. November 1936 die erste Fotoreportage in einem neuen Magazin, das zur Legende wurde: Life. Zu sehen: Ein neu geborenes Menschenkind, ein Arzt hält es an den Beinen hoch. George hieß das Neugeborene. George wurde 63 Jahre alt. Er starb am 4. April 2000 – nur wenige Tage vorher hatte das Magazin, das seine Geburt dokumentierte, selbst sein Ende angekündigt: Das Maiheft 2000 ist die letzte reguläre Ausgabe von Life, künftig sollen nur noch Sonderausgaben zu großen Ereignissen erscheinen und die erfolgreiche Buchserie fortgesetzt werden.
Die letzte Titelseite zeigt wieder ein Baby, ein Frühchen, in den Händen eines Arztes: „Born Too Soon“, lautet die Schlagzeile – zu früh geboren – etwas, was man von der Zeitschrift selbst schwerlich sagen kann. Die erste Life kostete 10 Cent, die Erstauflage (250.000 Exemplare) war gleich am Erscheinungstag ausverkauft, und die Händler schrien nach mehr. Nach nur drei Monaten verkaufte sich Life mehr als eine Million Mal pro Woche, nach einem Jahr betrug die Auflage anderthalb Millionen Exemplare.
Schwesterblatt von „Time“
Herausgeber Henry Luce, der vor Life schon das Nachrichtenmagazin Time gegründete hatte, ließ den Dichter Archibald McLeish das Motto seines neuen Blattes formulieren: „Das Leben und die Welt zu sehen, Zeuge zu werden von großen Ereignissen, in die Gesichter der Armen zu sehen und den Gesten der Stolzen zu folgen“.
Bernhard De Voto, Herausgeber der Saturday Review of Literature, machte in einem eigenen Motto klar, was er von Life hielt: „Lifes Bilderwelt wird nach einem Rezept gestaltet, das zu gleichen Teilen nach dem enthaupteten Chinesen, und dem ausgepeitschten Neger, dem Operationsfeld und einem verrutschenden Hemd verlangt.“
Life zeigte in der Tat noch nie gesehene Bilder: vom Krieg und vom Menschen im Mutterleib; von Geburt und von Tod, von grenzenloser Armut und unwirklichem Reichtum.
Zeit ihres 63-jährigen Daseins schöpfte Life aus dem vollen Leben, in der letzten Ausgabe dokumentiert sie jetzt einige der Fälle, in denen sie buchstäblich Leben schenkte: 1961 veröffentlichte sie die Geschichte des an Asthma sterbenden 12-jährigen Flavio aus Rio de Janeiro. Ein Foto von Gordon Parks zeigte ihn in schmutzige Decken gehüllt auf seinem Sterbebett. Die Geschichte führte zu einer Welle der Spenden- und Hilfsbereitschaft. Der Junge konnte in Denver behandelt werden und wurde gesund. Die letzte Ausgabe von Life zeigt Flavio vor dem Bretterzaun seines bescheidenen Hauses, das von den Spendengeldern vor bald 40 Jahren gebaut wurde.
Für Life arbeiteten die größten Fotografen des 20. Jahrhunderts: Robert Capa und Eugene Smith, Margaret Bourke-White und Alfred Eisenstaedt, Sebastiao Salgado und Eugene Richards, Harry Benson und Mary Ellen Mark.
Die Bilder und Reportagen aus dem Zweiten Weltkrieg und aus Vietnam prägten sich ein und bestimmen bis heute das Bild, das man – oder zumindest ein Großteil der US-Bevölkerung – sich von diesen Kriegen macht.
Dabei war die redaktionelle Linie von Life klar für den Krieg in Vietnam, doch mit einer einzigen Fotoreportage trug das Blatt mehr zu dessen Beendigung bei als Diplomatie und Protest: 1969 waren auf 13 Seiten die 220 US-Soldaten abgebildet, die in der Vorwoche gefallen waren. „Diese Bilder trieben Tränen in die Augen jedes Mannes und jeder Frau in Amerika“, erinnert sich der Kriegsberichterstatter und Historiker David Halberstam.
Die Generation der heute 50-Jährigen wuchs mit Illustrierten wie Look, Life und der Saturday Evening Post auf. Life war für den Zeitschriftenmarkt, was die Wochenschau für das Kino repräsentierte: Der Einbruch der Realität in den Alltag.
Der erster Tod kam 1972
Von all diesen Zeitschriften hat Life am längsten überlebt – zwar wurde sie 1972 schon einmal mangels Gewinn eingestellt, kam dann aber 1978 in verkleinertem Format und nur noch als Monatsmagazin wieder heraus.
Der zweite Tod, der Life wieder wegen schwindender Profite ereilt, ist auch ein schwerer Verlust für das Medium der Fotoreportage: „Life ging in der Konkurrenz mit dem Fernsehen und dem Internet sowie mit den Special Interest-Zeitschriften unter“, sagt Leena Jayaswal, Dozentin für Fotojournalismus an der American University in Washington. In den meterlangen Zeitschriftenregalen amerikanischer Läden dominieren heute in der Tat die Computer- und Bodybuilding-Blätter, die Rad- und Motorradfahrer-, Angler- und Reiterzeitschriften.
Ganz kann diese Erklärung nicht stimmen. Denn im Nachrichtenregal finden sich immer noch an die hundert verschiedene Titel. Doch das Genre Fotoreportage findet sich heute auch bei den anderen: Time brachte im März ein Portfolio des Fotografen Sebastiao Salgado mit erschütternden Bildern aus Ruanda und dem irakischen Kurdistan. Die Magazinbeilage der New York Times veröffentlichte ebenfalls im März eine Fotoreportage über Armut im Schatten des amerikanischen Booms – beide Male Reportagen, deren Machart und Ästhetik zuerst in Life entwickelt wurde – und in New York drängen sich zur Zeit tausende ins Metropolitan Museum zur Retrospektive des Life-Fotografen Walker Evans. „Das Ende von Life ist nicht das Ende der Fotoreportage“, sagt Peter Range, ehemals Berlinkorrespondent von Time. „Time selbst und andere Nachrichtenmagazine haben das Medium eben aufgegriffen.“
Life machte übrigens durchaus bis zuletzt noch Gewinne – ein paar Millionen Dollar im Jahr, aber wohl nicht genug für den Medienriesen Time Warner, dessen Zeitschriftenabteilung letztes Jahr mit insgesamt 679 Dollar zum Konzernergebnis beitrug.
Vielleicht war Life auch trotz des 1978 verkleinerten Formats einfach nur zu groß und gehaltvoll für die heutige Zeitschriftenwelt: Zur gleichen Zeit, da das Magazin eingestellt wird, erscheint die erste Ausgabe einer Illustrierten, die Hilfestellung beim „Einfachen Leben“ durch Kaufempfehlung für die richtigen Produkte leisten will: Real Simple, eben.
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