Beklemmende Geschichten von Überlebenden der Shoah

Mit dem Ehrengast Kanzler Schröder wird heute die Ausstellung über „Juden in Berlin 1938-1945“ eröffnet: eine Schau, radikal aus der Sicht der Opfer

Auf den ersten Blick ein ganz harmloses Schild: „Achtung Friedhofsbesucher“, mahnte die Jüdische Gemeinde Anfang der 40er-Jahre in roter und schwarzer Druckschrift auf weißem Grund: „Haltet in Eurem eigenen Interesse Verkehrsdisziplin.“ Die Besucher des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee, des größten Europas, sollten nicht, auch wenn das der kürzere Weg war, verkehrswidrig quer über den Straßenbahndamm gehen, wenn sie von den Gräbern ihrer Verwandten kamen. Denn: Die Gestapo lag an dieser Stelle oft auf der Lauer. Und nutzte den Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, um die Juden festzunehmen und sofort in Sammellager für die Deportation zu stecken. Der Gang über den Damm konnte der erste Schritt in die Gaskammern sein.

Das Schild aus der Zeit der offenen Verfolgung gehört zu den eindruckvollsten Exponaten einer Ausstellung, die heute in der Hauptstadt mit großem Brimborium eröffnet wird: „Juden in Berlin 1938 – 1945“. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) will sprechen, über 400 Gäste werden erwartet – unter ihnen einige Zeitzeugen der Verfolgung und Shoah-Opfer, die irgendwie überlebten. Die aufwendige Schau im Centrum Judaicum unter der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte will den Alltagshorror der Juden in Kriegs- und Vorkriegszeit beschreiben. Sie beginnt mit dem „Schicksalsjahr“ 1938, als das NS-Regime die Politik der „forcierten Auswanderung“ gegenüber den Juden durch die so genannte „Juni-Aktion“ verschärfte: die Verhaftung angeblich krimineller Juden und das Beschmieren jüdischer Geschäfte in Berlin. Sie beleuchtet die Reichspogromnacht im November 1938, als 12.000 Juden verhaftet wurden, beschreibt die zunehmende Entrechtung der in der Hauptstadt verbliebenen Juden und endet mit der Deportation von Zehntausenden in die Vernichtungslager des Ostens.

Die Ausstellung ist etwas Besonderes. Nicht nur, weil das jüdische Leben in der Hauptstadt derzeit wieder zu blühen beginnt und bisher keine Schau umfassend die Shoah-Geschichte erzählte. Sie beleuchtet zudem die deutsche Stadt, in der die Verfolgung besonders wüten konnte, denn vor dem Krieg lebten in Berlin mehr Juden als heute in der ganzen Bundesrepublik. Die Nazis zerstörten die größte jüdische Gemeinde des Reichs mit 50 Synagogen und Betsälen bis auf einen kümmerlichen Rest: Von ihren 170.000 Mitglieder emigrierten gut 80.000, über 55.000 wurden ermordet, nur wenige tausend kehrten nach dem Krieg nach Berlin zurück.

Geschichten sollen erzählt werden. Deshalb hält sich die Schau zurück mit Zahlen, vertraut auf die Berichte und Zeugnisse der Überlebenden. Es gibt keine Texttafeln, die nur mühsam den Terror vermitteln, sondern ein Netz von Video- und Audio-Stationen, durch die der Besucher geht: Nur die Zeitzeugen können heute noch das oft Gehörte so vermitteln, dass das Monströse der Verfolgung den Besucher ergreifen kann. Deshalb wählt die Schau auch radikal die Opferperspektive: Die Täter werden nur gestreift, sie sollen nicht, wie sonst üblich in Ausstellungen ähnlicher Art, das letzte Wort haben.

Zusätzlich beklemmend wirken die Exponate durch den historisch aufgeladenen Ort, in dem sie zu sehen sind. Denn die Neue Synagoge war bis 1943, als sie zwangsweise aufgelöst wurde, der Sitz der Jüdischen Gemeinde. Der Anordnung der Gestapo gehorchend, musste der Vorstand der Gemeinde am 20. Oktober 1942 genau in diesen Räumen aus ihren Mitarbeitern 500 Männer und Frauen bestimmen, die deportiert werden sollten. Unter diesem Dach war das „Gesamtarchiv der Juden“ untergebracht, eine 1905 angelegte Sammlung von Abstammungsakten: Sie fiel in die Hände der deutschen Häscher und erleichterte ihnen die Verfolgung. Hier hatte die Gestapo später gar ein Gefängnis.

Es gehört zu den Stärken der Ausstellung, dass sie trotz ihrer Ausrichtung auch auf junge Besucher auf die Wirkung scheinbar nebensächlicher Exponate setzt: Dazu zählt ein aus einer Tuchfabrik unversehrt erhalten gebliebener ganzer Bogen gelber Judensterne, von denen einige herausgeschnitten wurden. Eine durch zwei gegenüberstehende Spiegel ins Unendliche vervielfachte Sammlung von Alltagsgegenständen ist zu sehen, deren Besitz Juden im Laufe der Verfolgungsjahre verboten wurde: Staubsauger gehörten dazu, Lederhosen oder Wintermäntel. Eindrucksvoll ist auch das Einweisungsbuch des Jüdischen Krankenhauses, in das phasenweise – je nach Verfolgungsdruck – seitenlang als Todesursache „Schlafmittelvergiftung“ eingetragen wurde: 7.000 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde verübten Selbstmord, um der Deportation zu entgehen.

Die Geschichte der größten Berliner Zigarettenfabrikanten, der Familie Garbáty, wird erzählt. Damit sie emigrieren durften, mussten die Garbátys fast ihr gesamtes Vermögen an den damaligen Polizeipräsidenten Wolf Graf von Helldorf überweisen (später ein Mitwisser des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944). Heute sitzt in der „Garbáty-Villa“ die Deutschland-Zentrale der „Republikaner“.

Die Ausstellung soll weh tun, und so werden auch die Geschichten erzählt, die in der Jüdischen Gemeinde selbst Jahrzehnte tabuisiert waren: Etwa von den „Ordnern“, die sie in der Nazizeit abstellen musste, um die Deportation zu organisieren. Oder von den „Greifern“. Das waren Jüdinnen und Juden, die für die Gestapo Spitzeldienste leisteten: Sie verpfiffen ihre Glaubensgenossen, die in Berlin mit falscher Identität untergetaucht waren oder versteckt wurden. Die beklemmendste Geschichte ist die der wunderschönen Stella, die unter den Verfolgten als „blondes Gift“ berüchtigt war und Hunderte ans Messer lieferte. Eine tragische Geschichte, denn sie wollte durch ihre Mithilfe bei der Verfolgung sich selbst und ihre Familie vor dem Tod retten. Als sie nach dem Krieg ein Journalist ausfindig machen konnte, starb sie am Tag der Ausstrahlung des Interviews – wahrscheinlich durch Suizid.

Neben Prominenten wie dem früheren Quizmaster Hans Rosenthal, dem ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, und dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, die in Tondokumenten zu Wort kommen, haben die Ausstellungsmacher einige der letzten Berliner Shoah-Opfer interviewt, die noch leben. Manche überließen ihnen die Erinnerungsstücke, die sie aus der Zeit der Verfolgung gerettet hatten – unter ihnen der in den USA lebende Walter Philipp, der trotz Gepäcksbeschränkung seine Menora bei der Emigration mitnahm. Das sei ihm nicht leicht gefallen, schreiben die Ausstellungsleiter. Doch nun kann der Kerzenständer wieder am rechten Platz leuchten. PHILIPP GESSLER

Ausstellung „Juden in Berlin 1938-1945“. Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28-30, Berlin-Mitte. Bis 20. August 2000. Sonntag bis Donnerstag 10-18 Uhr, Freitag 10-14 Uhr. Die Ausstellung ist kostenlos. Der Eintritt ins Centrum Judaicum kostet allerdings 5 DM (erm. 3 DM).

Hinweis:Keine Ausstellung erzählte bisher so umfassend die Shoah-Geschichte – in der deutschen Stadt, in der die Verfolgung besonders wütete