: Es wird alles verharmlost
betr.: „Gift in der Schreinerstube“, „Der Fall Peter Röder“, „So krank macht PCP“, taz vom 18. 4. 00
MCS (Multiple Chemical Sensitivity) ist keine „weitgehend unbekannte Krankheit“. MCS ist in den USA schon seit langem bekannt, es gibt dort verschärfte Gesetze bei Diskriminierung eines MCS-Kranken (bis zu 50.000 Dollar Strafe), es gibt spezielle Häuser, Wohnungen, Geschäfte, Restaurants, Möbel, Textilien usw., alles Dinge des täglichen Gebrauchs, welche speziell auf MCS-Kranke abgestimmt sind.
Hiervon sind wir in Deutschland sehr weit entfernt. Bei uns wird die Krankheit nicht ernst genommen, wir dürfen uns verhöhnen lassen; die Krankenkassen sperren sich, die allmächtige Chemie wegen der verursachten Krankentage, -wochen, -jahre in Regress zu nehmen; die Berufsgenossenschaften weigern sich, die Chemikalienunverträglichkeiten des Individuums überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, und selbst (fast) lückenlose Beweise, Kausalitäten werden nicht zur Kenntnis genommen.
Laut Berufskrankheitenliste gibt es verschiedene Möglichkeiten, unter welche MCS fallen könnte – lösungsmittel- oder speziell durch Benzol bedingt; meist sind wir aber mischexponiert und können keiner der gültigen BK-Nummern, nach Meinung der „BG-Experten“ zugeordnet werden. Seit Januar diesen Jahres wird MCS unter dem ICD-10 Schlüssel T 78.4 als diagnostizierbar angegeben. [...]
Alle so genannten Experten und Koryphäen der BGen, der MDK, Arbeitgeber, Gerichte usw. stützen sich auf die MAK-Werte (Maximale Arbeitsplatzkonzentration), auf irgendwelche Grenz- und Richtwerte, die so gedreht werden, dass sie meist nicht erreicht werden/wurden, und wenn doch, dann nur für eine kurze Zeit, welche ein im Berufsleben stehender Mensch einfach ertragen muss!
Im Bericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Verhaltenstoxikologie und MAK-Grenzwertfestlegungen“ (ISBN 3-527-27242-4) steht zu lesen: „ . . . ungeachtet dieser individuell unterschiedlichen Reaktionen auf Arbeitsstoffe sollte es gelingen, durch eine geeignete Breite von Untersuchungsansätzen allgemein gültige Empfehlungen bei der Grenzwertfestlegung zu finden. Sie sollten nicht für eine Minderheit von besonders empfindlichen oder besonders anpassungsfähigen Menschen gelten. Sie sollten vielmehr über eine ‚durchschnittliche‘ oder ‚normale‘ Reaktion aus der Mehrheit von individuellen Reaktionen gesucht werden. Es bedarf erheblichen Aufwandes, diese durchschnittliche oder normale Reaktion zu definieren. (...) Wenn allein die ersten statistisch signifikanten Reaktionen der empfindlichen Personen zur Grenzwertfestlegung herangezogen würden, dann läge der Beginn nicht tolerierbarer Konzentrationen des Arbeitsstoffes wahrscheinlich nahe der Wahrnehmungsschwelle.“
In diesem Bericht stehen alle Kriterien, wonach beispielsweise eine Lösemitteleinwirkung feststeht, schwarz auf weiß (bereits 1987 veröffentlicht); auch wird nicht unbedingt von so genannten „Befindlichkeitsstörungen“ gesprochen, die wohl jeder irgendwann erlebt, nein, es geht um „verhaltenstoxikologische Effekte“, ebenfalls bereits 1989 publiziert.
Unsere „Experten“ wissen sehr genau, dass es genügend Menschen gibt, welche auf die kleinsten Spuren von Chemikalien reagieren, oft mit verheerenden, teilweise irreversiblen Folgen. Aber es wird tunlichst alles verharmlost, der Betroffene als Spinner, Ökochonder, als in irgendeiner Weise schizophren, als ängstlich, manisch depressiv usw. ausgegeben. Wir Betroffenen erkennen uns in den über uns erstellten Gutachten nicht wieder. [...] Da nicht jeder Betroffene Internetzugang hat, folgende Adressen:
Selbsthilfegruppe der Chemikalien- und Holzschutzmittelgeschädigten Würzburg: Rudolf-Clausius-Straße 4, 97080 Würzburg (Fam. Hennek); Tel.: (09 31) 9 36 27, Fax (09 31) 96 08 88Finkenstraße 15, 97204 Höchberg (I. Trageser), Tel./Fax: (09 31) 4 91 41 Für Berufs- und am Arbeitsplatz Erkrankte: abeKra – Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter e. V. – Bundesgeschäftsstelle, Industriestraße 17, 63674 Altenstadt/Hessen; Tel. (0 60 47) 95 26 60, Fax (0 60 47) 95 26 62.INGRID TRAGESER, Höchberg
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