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Der gute Giftmischer

In diesem Jahr wird der hundertste Todestag von Friedrich Nietzsche begangen. Seine Ideen – ein alter Hut? Tatsächlich ist seine Vernunftkritik aktueller denn je: als Plädoyer gegen den modernen Übermenschen

von WALTER ERHART

„Nietzsche ist wie ein Park, der Benutzung des Publikums übergeben – aber es geht niemand hinein!“ So klagt Robert Musil 1902, zwei Jahre nach Nietzsches Tod. Heute ist dieser Park ein Tummelplatz, das Areal ist zertreten, wiewohl von streitbaren Grenzhütern bewacht. Mit Wegtafeln, wie auf das 20. Jahrhundert gemünzt. Hier der „Wille zur Macht“ und der „Übermensch“, dort die „Umwertung aller Werte“ und das „durchbohrende Gefühl des Nichts“.

Klischees! Unentwegt haben Herausgeber, Nachlassverwalter und Philosophen die Aussagekraft von Nietzscheformeln dementiert – mit dem Hinweis auf vernachlässigte Kontexte, mit der Warnung vor interpretativen Kurzschlüssen. Sie hatten Recht. Schon Nietzsches Nachlass war verfälscht, das große Werk über den „Willen zur Macht“ ein Wunschbuch der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, einst dem von ihr hofierten Führer Hitler ans Herz gelegt.

Es begann mit Begeisterung. Kurz nach seinem Tod avancierte Nietzsche zum Kultautor der Dichter und Ästheten. Wenig später folgte die politische Indienstnahme: Nietzsche als Lektüre für Frontsoldaten und für Mussolini, ein Werk mit nationalsozialistischen Benutzerspuren. Wieder später saß Nietzsche auf der Anklagebank der Nürnberger Prozesse, explizit in der Rede des französischen Hauptanklägers de Menthon. Nur mühsam ließ sich das Werk aus den Fängen der Nietzsche-Jünger und -Vereinfacher befreien.

Katerstimmung. Es schlug die Stunde der Exegeten: eine „Kritische Gesamtausgabe“, ein „Nietzsche-Jahrbuch“, ein neu errichtetes „Nietzsche-Forum Weimar“, die Nietzsche-Pflege der „Stiftung Weimarer Klassik“. Zuletzt pünktlich und passend: das hundertste Todesjahr.

Nach den Goethe-Feiern des Vorjahres schlägt nun das große Jahr der Nietzsche-Interpreten – mit Vorträgen, Tagungen, Ausstellungen, Spruchsammlungen, Bildbänden. Nietzsche-Sentenzen gehören längst zum Hausschatz von Erstsemestern: „Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen“, Wahrheit ist „ein bewegliches Heer von Metaphern“, das Subjekt „nur eine Fiktion“. Und Nietzsche endlich ein Klassiker.

Noch vor einigen Jahrzehnten war dies anders. Nietzsches Diagnose des europäischen Nihilismus stand zwar auf jeder Gelehrten-Tagesordnung, „sein“ Buch über den „Willen zur Macht“ ganz dicht neben Titeln wie „Abendland, wohin?“, „Die Krise Europas und die Überwindung des Nihilismus“, „Begegnung mit dem Nichts“. Klassiker sind konsenspflichtig. Der Nihilismus jedoch war Staats- und Kulturfeind Nummer eins, Nietzsche sein düster-anrüchiger Prophet – in Ost und West.

Heute ist mit der Aufgeregtheit jener Jahre auch mancher Schrecken verschwunden. Wenn der Nihilismus, „dieser unheimlichste aller Gäste“, bei Nietzsche wie in einem abendländischen Horrorfilm „vor der Tür steht“, sind wir eher geneigt, abzuwinken. Wir wissen heute, woher dieser ungebetene Besuch kommt, und haben uns an die dabei entstehende Zugluft gewöhnt.

Draußen vor der Tür liegt eine uns allen vertraute Landschaft: die Bergwerke des Sinnabbaus, die verwitterten Denkmäler der Glaubenslehren und Seinsgewissheiten. Auch der Nihilismus trägt heute ein gelassen postmodernes Design, gilt gar als „leichtes Denken“ (Gianni Vattimo). Die abgeklärten Mitglieder der „Risiokogesellschaft“ und die pragmatischen Kinder eines „flexiblen Kapitalismus“ sind inzwischen allesamt auf recht undramatische Weise zu Nihilisten und Nietzscheanern mutiert. Wer einmal zur No-Future-Generation gehörte, sitzt jetzt im Elternbeirat, studiert Aktienkurse, kennt sich mit der „Genealogie der Moral“ gut aus und spöttelt bei Prosecco und Parmesan über Papst, Christentum und „asketische Ideale“.

Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.“ Mit diesem Aphorismus hat Nietzsche den Künstlern um 1900 eine Apotheose ihrer Existenz geliefert und zugleich mit einer ersten Antwort auf das nihilistische Zeitalter experimentiert. In der Moral gibt es fortan keine gültigen „Wertsetzungen“ mehr, sondern lediglich „Schätzungen“ und „Vorlieben“: ein Weg zu ungeahnten Freiheiten, zugleich aber ein Passepartout für durchsetzungsfähige „starke“ Wertschätzungen.

Der moderne Rechtfertigungsdruck entfällt, Normbegründungen und rationale Verfahren werden durch „Perspektivismus“ und „Interpretation“ ersetzt. Der „unheimliche Gast“ hat sich in einen diskussionsfreudigen Nachbarn verwandelt, mit dem man unbesorgt eine „fröhliche“ Humanwissenschaft betreiben kann. Es genügt, den Nihilismus „ins Positive zu lesen“ (wie der Philosoph Günter Abel sagt) und hinter dem „Willen zur Macht“ einen „Willen zur Interpretation“ zu entdecken.

Das nihilistische Gedankenexperiment schrumpft zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für „Deutungswissenschaften“ – passend zur Jubiläumsfeier, passend zur Kulturhauptstadt Weimar. Es kommt eben nur noch darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren. Nietzsche selbst freilich hat seine Erkenntnis stets als etwas „Ungeheuerliches“ bezeichnet. Das schillernde Schlagwort vom „Willen zur Macht“ blieb ihm ein Eingeständnis, dass alle gängigen Normenkontrollverfahren zum Scheitern verurteilt sind.

Wie steht es also mit den dabei freigesetzten Fantasien über die „Sklavenmoral“ und die künftigen Niederlagen der „Schwachen“ und „Zu-kurz-Gekommenen“, über die „Züchtung“ des Übermenschen und den Kampf zwischen „starken“ und „minderwertigen“ Rassen, über „große Politik“ und künftige Kriege? Ein bloßer „Denkkampf“ (Manfred Riedel)? Statt zu dramatisieren, gilt es, Nietzsches eigene Dramaturgie zu entziffern, sein experimentelles, gleichsam atemloses Denken, das niemals an ein Ende (gar an ein gutes) gelangt.

„Aus dem Nachlass“, einer Sammlung von Fragmenten, lässt sich als eine große Versuchsanordnung lesen, wie es nach dem europäischen und modernen Nihilismus mit dem Denken, den Menschen und den Gesellschaften weitergehen könnte. Sie bietet hinlänglich Optionen für das Unvorstellbare, Drehbücher für Katastrophen. Denn der Barbarismus und das Inhumane beginnen ihre Karrieren oft genug als „ästhetische Phänomene“, und Nietzsches Nachmoderne ist ebenso Labor wie Giftküche.

„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit.“ Die Debatte um Peter Sloterdijk hat darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsches Philosophie (die „kälteste Vernunftkritik, bei der man unwillkürlich blaue Finger bekommt“) eine „physiologische“ Grundlegung des Denkens und des Menschen erprobt. Zeit seines Lebens hat sich Nietzsche um eine Verbindung der Naturwissenschaften mit einer Theorie des Menschen bemüht: um eine „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“, um Biologie, Medizin, Völkerkunde, Evolutionstheorie.

Wenn Moral, Sprache und Vernunft keinen Grund und keinen Halt mehr besitzen („Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“), dann entstehen Menschenexperimente. Nietzsche hat in den Naturwissenschaften kein neues Fundament für Wertschöpfungstheorien gesucht (wie heute manch fröhlicher Evolutionstheoretiker). Im Gegenteil: Statt Botschaften und Lösungen zu verkünden, erinnert die Bodenlosigkeit seiner „Lebensphilosophie“ jede Moderne und jede moderne Wissenschaft an die Kontingenz und die Fragilität, vielleicht auch die Vergeblichkeit ihrer Setzungen – und dies macht Nietzsche in Zeiten der Gentechnik tatsächlich zu einer Autorität, freilich keiner freundlichen.

Das Subjekt ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.“ Nietzsches Entzauberung der Subjektphilosophie wurde stets als jene konzertierte abendländische Aktion empfunden, für die das große Wort vom Tod des Menschen gerade gut genug schien. Der Tod des Subjekts – ein Missverständnis, das mit Nietzsches Philosophie einen ähnlich kurzen Prozess macht wie die Rede vom Willen zur Interpretation. Schon ist in der FAZ gelegentlich ein Frohlocken zu vernehmen, dass das „Subjekt“ (zumeist ein bildungsbürgerliches mit erlesener Bibliothek und klugen Kindern) vielleicht doch nicht „totzukriegen“ ist. Auch gut. Ebenso lässt sich eine Philosophie des Individualismus auf Nietzsches Fahnen schreiben: als Aufforderung zu einem gefährlichen Denken, das die „starken“ Subjekte dazu freisetzt, „bodenlos“ zu werden, übermenschlich und gewissenlos.

Nietzsches Fazit über das Ende des Menschen (Also sprach Zarathustra: „Ich zeige euch den letzten Menschen“) lautete daher anders: Der Mensch lebt weiter, das Subjekt auch – aber wie? Einen furiosen Auftritt hatte die Nietzsche-Rezeption deshalb noch im Goethejahr („Edel sei der Mensch“) mit den „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq. Der Roman zur Philosophie. Sein utopisch-apokalyptisches Ende führt in jene Welt, in der die Abschaffung („Züchtung“, „Überwindung“) des Menschen nicht nur erträumt, sondern an die Wissenschaftler im Labor delegiert wird.

Der postchristliche Humanismus hat versagt: Lasst uns ein Wesen erschaffen, das nicht mehr leidet: am Neid, am Ressentiment, am schlechten Gewissen, an der Geschichte, an der Sexualität. Nennen wir es „Übermensch“. Nietzsche, der die „große“ Gesundheit und den „starken“ Menschen beschwor, kannte sich selbst am besten mit Krankheiten aus, war ständig auf der Flucht vor „fürchterlichen Zuständen“ („immer krank“, „beständiger Schmerz“).

Die Spuren dieser so oft heroisch genannten Existenz sind auch im Werk zu finden: Auf jede Sentenz über die Freuden des „aktiven Nihilismus“ kommen mindestens zwei, die von der „Zucht des großen Leidens“ erzählen. So straft Nietzsches Existenzphilosophie noch jene wohlfeile Ideologie eines spätmodernen Individualismus Lügen, der die Freiheiten der Bastelexistenz zelebriert und die wertschöpfenden Subjekte in die vermeintliche Offenheit einer „zweiten Moderne“ entlässt. Sie handelt vielmehr davon, was der nachmoderne Mensch alles „erlitten“ haben muss, um irgendwann zu irgendeinem „Übermenschen“ zu werden. Nietzsche – der entscheidende Philosoph auch für das 21. Jahrhundert. Leider.

WALTER ERHART, 41, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur in Greifswald.

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