Scharia? Halleluja!

Nach dem Pogrom ist vor dem Pogrom: Der Busfahrer beschallt Muslime mit Gospels. Der Buchhändler bietet „Die 50.000 Fehler in der Bibel“ an

aus Kaduna HAKEEM JIMO

Dem Busfahrer scheint es egal zu sein. Seelenruhig sitzt er in seiner abgeschirmten Kabine und merkt nichts von der Gereiztheit seiner Passagiere. Er will diese Strecke endlich hinter sich bringen – von Lagos im Südwesten Nigerias bis weit in den islamischen Norden.

Es ist halb sieben Uhr morgens, seit zwölf Stunden hockt der Fahrer hinter der Windschutzscheibe. Mit Musik versucht er, etwas Pepp in seine Glieder zu bringen. Doch die Lieder kommen hinten im Bus bei einigen der 50 Mitreisenden gar nicht gut an. „Sing o joy o Africa – Halleluja“ schmettert ein gut temperierter Frauen-Gospelchor. Ein Mann steht auf und haut mit der einen Faust gegen die Seitenwand der Fahrerkabine, in der anderen knetet er einen Gebetskranz.

Der Busfahrer scheint nicht der sensibelste zu sein. Der Bus dröhnt vor christlicher Propaganda wie auf einer Pfingstfahrt. Und das auf dem Weg nach Kaduna, die Stadt, die seit Februar für das religiöse Trauma Nigerias steht. Erst als eine Militärkontrolle den Bus nach Waffen untersuchen will, dreht der Fahrer die Musik leise.

„Scharia muss kommen“ steht auf der Wand der Kathedrale

In Kaduna liegt die katholische Kathedrale St. Joseph nur einen Molotowbombenwurf entfernt von der zentralen Moschee. Vor den Gebetshäuser sitzen bettelnde Frauen und Männer. Über die offene Abwasserrinne haben sie Bretter gelegt, auf denen sie schlafen. Sie nehmen Geld von jedem, ob der Geber rechts in die Moschee geht oder links in die Kathedrale. Diese unmittelbare Nachbarschaft der Gotteshäuser galt lange als Sinnbild für das friedliche Miteinander aller Religionen und Volksgruppen im Bundesstaat Kaduna. Nun schwärzen Brandflecken die Wand der Kathedrale, die Fenster sind eingeschmissen.

Bei den Unruhen im Februar wollten die aufgebrachten Muslime das Gotteshaus erstürmen. Das eiserne Tor gab nicht nach, also brannten sie die davor parkenden Autos ab, knickten Laternenpfähle um und zündelten an einem hölzernen Telefonmast. Auf die Mauern schrieben sie: „Scharia muss kommen“.

Viel schlimmer traf es die Moschee, das älteste Freitagsgebetshaus der Stadt. Schlaff hängen Ventilatorenblätter von der Decke. Die Brandhitze hat alles zusammengeschmort. Selbst das Wellblechdach krümmte sich zusammen und stürzte ein. Bleche liegen da, wo Gläubige sich sonst gen Mekka verbeugten. Nach dem Feuer zerbröselten die Steinwände. Tagsüber fahren junge Muslime jetzt karrenweise die Klumpen aus dem heiligen Ort. Sie wollen die Moschee nicht aufgeben.

Das Pogrom hat tiefe Furchen in der Stadt hinterlassen. Misstrauen herrscht überall, sagt der katholische Erzbischof Peter Jatau. „Die Muslime befürchten jeden Sonntag, dass die Christen nach ihrem Gottesdienst losschlagen. Und die Christen haben Angst, dass die Muslime nach den Freitagsgebeten auf Rachezug gehen.“

Gabriel Emere gehört zu dem Igbo-Volk aus dem Südosten Nigerias. Der junge Mann besitzt ein Geschäft für Unterhaltungselektronik an der Hauptverkehrsstraße Ahmadu Bello Way. Hier wurden mehrere Dutzend Häuser und Geschäfte beschädigt. Gabriel Emeres Laden wurde aufgebrochen, geplündert und dann mit Benzin in Brand gesteckt. Jetzt sitzt er auf einem Hocker in dem Laden des rußgeschwärzten Hauses. „Sie kamen mit Macheten, warfen Steine, und es gab sogar einige, die geschossen haben“, sagt er und schaut auf den spärlichen Rest einiger Geräte in seinen Regalen. Er konnte in den Minuten des Angriffs nichts weiter tun, als zwei weinende Kinder zu greifen und in Deckung zu laufen. Bis heute haben sich nicht alle Familien wiedergefunden, viele Menschen bleiben unauffindbar in einem der vielen Sammellager.

Der Christ Gabriel Emere hatte ein paar Freunde aus dem muslimischen Haussa-Volk. Doch recht getraut hat er ihnen nie, sagt er heute. Und er werde ihnen auch nie mehr trauen. Er erzählt, wie die muslimischen Angreifer durch die Straßen zogen und dann und wann vor einem Laden oder einem Haus stehen blieben. Sie kamen nicht aus den Vierteln, in denen sie wüteten. Also mussten sie fragen, welches Haus einem Christen gehört. So wurden Nachbarn zu Denunzianten.

Später traf es die Muslime. In einer Koranschule gibt es einen versiegelten Brunnen. Der islamische Lehrer erzählt, wie christliche Jugendliche zuerst die Hühner, Ziegen und Hunde töteten und sie dann in die Frischwasserquelle warfen. Ein muslimischer Autoverkäufer verlor seinen gesamten Autopark. Totalverlust ohne Hoffnung auf Erstattung. Nun versucht er trotzdem, sein Geschäft zu halten, keinen seiner Angestellten zu entlassen – auch nicht die Christen unter ihnen.

Die Brandbomben wirbelten wie ein Feuer-Tornado durch die Straßen. Ein Haus traf es, das andere nicht – je nachdem, wer drin wohnte. In Rigasa, einem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Viertel, ging es besonders brutal zu. Hier stehe keine Kirche mehr, heißt es. Alle wurden in Brand gesteckt – mitsamt der Pastoren. An einer Stelle wurden 20 Prediger exekutiert.

Heute gibt es am Markt von Kaduna wieder alles zu kaufen. Elektronische Geräte und gebrauchte westliche Kleidung auf den Tischen der christlichen Igbo-Händler – Gemüse und Obst auf denen der muslimischen Geschäftsnachbarn. In einem islamischen Buchladen liegt ein Heftchen mit dem Titel: „Die 50.000 Fehler in der Bibel.“ Auf einem anderen Tisch werden Tonbandkopien einer Rede von Ahmed Sani Yerima verkauft. Der Gouverneur des nordwestlichen Bundesstaates Zamfara hatte im Oktober letzten Jahres als erster die Einführung der Scharia verkündet und damit die religiösen Ausschreitungen in Nigeria losgetreten.

Die Polizei stellt Raketenwerfer, Granaten und Bomben sicher

Muslime, über ihre Meinung zur Scharia befragt, sind einmütig: Sie erhoffen sich ein geordneteres Leben und stehen zum überwältigendem Teil hinter dem islamischen Recht. Keiner scheint den heiklen Versuch einiger politischer Meinungsführer aus dem Norden Nigerias zu bereuen, Politik und Religion zu vermischen – obwohl Zerstörung anstelle von mehr Ordnung und Sicherheit die Folge war.

Noch lauter als die Marktrufe ist das Hämmern und Sägen. Fast alle Geschäftszeilen aus Stein sind zerstört und werden provisorisch durch Holzbuden ersetzt. Die Reste einstiger Wände liegen auf den Wegen verstreut. Jeder Schritt zermalmt Betonstückchen. Der Staub mischt sich mit dem Geruch von frisch angerührtem Mörtel und bearbeitetem Holz.

Die gröbsten Spuren des Pogroms sind beseitigt, die Toten abtransportiert. Aber die Erinnerungen trägt jeder mit sich herum. Und sie werden jeden Tag aufgefrischt. Etwa, wenn in Rigasa bei einer Razzia ein schweres Maschinengewehr gefunden wird und Unruhen prompt folgen. Sogar jeweils zwei Raketenwerfer, mittlere Bomben und kleine Granaten sollen von der Polizei sichergestellt worden sein.

Automatische Waffen und normale Gewehre und Pistolen sowie militärische Uniform waren immer ein Monopol der Sicherheitskräfte des Staates – vor allem des Militärs. Nicht einmal die Polizei kommt an solch schweres Gerät heran, wie es in Kaduna auftaucht. Jeder fragt sich, woher die Muslime das hatten. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Ausschreitungen organisiert waren, mit Blick auf die Art und Weise wie einige ums Leben kamen“, sagt Erzbischof Jatau. „Jeder weiß, wer ein Interesse an diesen Unruhen hat.“

Die Massenpresse im Süden des Landes hat die Verschwörer längst ausgemacht: All jene Militärs und Zivilisten, die Nigeria in den letzten 20 Jahren regiert haben. Damals interessierten sie sich nicht für das islamische Recht; heute, da mit Präsident Olusegun Obasanjo ein christlicher Regierungschef aus dem Süden das Land regiert, unterstützen und initiieren sie nun plötzlich Scharia-Pläne nördlicher Bundesstaaten und bringen damit die Zentralregierung in arge Bedrängnis. Und dann machen noch Gerüchte die Runde von eingeschleusten Kämpfern aus den Nachbarländern Tschad und Niger – was nur einflussreiche Personen verwirklichen könnten, wie selbst Regierungssprecher sagen. Die Obasanjo-Regierung wirft den starken Männern aus dem Norden vor, das Land absichtlich ins Chaos zu stürzen, damit die ungeliebte Zentralregierung ihnen nicht ihre Privilegien wie lukrative Staatsaufträge oder gewinnträchtige Amtsposten entzieht und nicht zu eifrig versucht, die Milliardensummen zu finden, die die Militärs während ihrer Zeit an der Macht aus der Staatskasse stahlen.

Gesellschaftlich ist Kaduna jetzt eine geteilte Stadt. Gabriel Emere, der Elektronikverkäufer, hat drei Geschädigtenformulare bekommen: Von der Stadt, der Zentralregierung und dem Verband der Christen in Nigeria. Er soll Fragen beantworten wie: Von welcher Volksgruppe er kommt, ob er Muslim oder Christ ist. Fragen, die von der Zerrissenheit der nigerianischen Gesellschaft sprechen.

Jetzt wartet Gabriel Emere nur darauf, bis er etwas Geld aus dem Ausverkauf seiner verbliebenen Geräte zusammenhat. Dann will er in seine Heimat in den Südosten fahren. Erst einmal weg. Ob er noch einmal neu in Kaduna anfängt, weiß er nicht. Die hauptsächlich von christlichen Igbo geführten Busgesellschaften machen die Heimreise leichter. Sie senkten den Fahrpreis auf die Hälfte. Und Kirchenchormusik von der Kassette gibt es gratis.