piwik no script img

Gelebtes Leben

In ihren neuen Comics erzählen Martin tom Dieck und Markus Huber von 20er-Jahre-Literaten  ■ Von Ole Frahm

„Was wird 'gelöst'?“, fragte Walter Benjamin in seiner Einbahnstraße, “Bleiben nicht alle Fragen gelebten Lebens zurück wie ein Baumschlag, der uns die Aussicht verwehrte? Daran, ihn auszuroden, ihn auch nur zu lichten, denken wir kaum. Wir schreiten weiter, lassen ihn hinter uns und aus der Ferne ist er zwar unübersehbar, aber undeutlich, schattenhaft und desto rätselhafter verschlungen.“

Das gelebte Leben – ein auf den ersten Blick fades Ding, das sich zwischen mäßig interessanten Ereignissen und bedingt erzählenswerten Anekdoten dahinschlängelt. Soll das gelebte Leben nicht unter vier Augen erzählt werden, soll es zu einem Comic, soll es lesbar und sichtbar werden, dann muss der Erzähler weit ausschreiten, um aus der Ferne tiefer in das Rätselhafte des Gelebten einzudringen. Anderenfalls droht die Erzählung prätentiös oder plappernd zu werden. Die Hamburger Comic-Zeichner Martin tom Dieck und Markus Huber sind Erzähler von Comics, die darum wissen.

Sie sind kaum zufällig gemeinsam mit jeweils einer Geschichte in der neuesten Nummer des Schweizer Comic-Magazins Strapazin vertreten. Beide erzählen Geschichten von Reisen, beide beziehen sich auf Literaten der Weimarer Republik. Dieck auf den Asphalt-Dichter Walter Mehring, Huber auf den Philosophen Walter Benjamin. Beide verwenden deren Texte: Dieck bricht Sätze aus der Autobiographie Mehrings heraus und verwandelt sie in flüchtige Fragmente. In brüchigen Bildern rekonstruiert er die historische, die schwierige Situation des Exils. Huber lässt seinen Ausflug nach Saturnia von einem Totenkopf mit Sätzen aus Walter Benjamins aphoristischer Einbahnstraße kommentieren.

Beide Zeichner haben ihre Geschichten zuerst in Frankreich veröffentlicht. Martin tom Dieck zeichnete seine Fragmente schon 1996. In Hamburg waren sie zwar schon ausgestellt; nun sind sie aber zum ersten Mal auch auf Deutsch zu lesen. Hubers Promenade à Saturnia ist kürzlich als Band 9 der angesehenen Reihe feu! der Pariser Amok Editions erschienen. Damit tritt Huber erstmals mit einer umfangreicheren Geschichte an die Öffentlichkeit und beweist sein schon lange vermutetes Potenzial als Comic-Erzähler, das verdient, genauer betrachtet zu werden.

Erzählen: Das meint heutzutage meist Geschichten um Liebe und Geld. Das gelebte Leben aber kennt wenige solcher erzählbaren Geschichten. Gelegentlich ist das Geld gemacht und die Liebe fällt den Liebenden so sicher zu, als sei dies niemals anders gewesen. So im Ausflug nach Saturnia. Dadurch öffnet sich der wolkenfreie Himmel der Toskana, unter dem es nur gilt, ein wenig glücklich zu sein. Das fällt schwer genug. Plötzlich und scheinbar grundlos bedrohen Skinheads die Liebenden. Erzählen: Das hieß einmal – nach einem Wort Walter Benjamins – Erfahrungen auszutauschen. Aber die Erfahrung ist im 20. Jahrhundert „im Kurse gefallen“: Manche glauben heute, sie könnten Erfahrungen machen wie Urlaub. Oder sie halten es für eine irre Erfahrung, einen Haschkeks zu essen. Markus Hubers Comics erinnern daran, dass es um mehr geht, zumindest darum: Erfahrung artikuliert sich in Fragen gelebten Lebens, Fragen, die fremd zurückbleiben. Eine Erfahrung ist immer verschlungen wie der Weg nach Saturnia, den uns der Totenkopf Walter weist.

Wie Benjamin in seinen Texten, sammelt Huber in jedem Panel Erfahrungsreste. Obwohl seine Antonionieske Phantasie ganz chronologisch erzählt ist, zerfällt es dem genauen Blick in viele wohl verbundene Fragmente, die Erfahrung bergen. Für das verdinglichte Medium Comic solches für möglich zu halten, ist Hubers Verdienst.

Ein Ausflug nach Saturnia ist schattenhaft und trotz des fast vollständigen Verzichts auf Grautöne bleibt zwischen dem Schwarz und dem Weiß, den Worten und Bildern etwas undeutlich, gelegentlich rätselhaft. Unübersehbar stellen sie Fragen an uns, die zu Fragen unseres gelebten Lebens werden. Wir werden weiterschreiten und sie uns – aus der Ferne – noch viele Male ansehen müssen.

Strapazin. Das Comic-Magazin. Nr. 58., Edition Moderne, Zürich und München 2000, 80 Seiten, 10 Mark

Markus Huber, Promenade à Saturnia, Editions Amok, Paris 2000, 24 Seiten, 42 Francs.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen